"Dieses Instrument rettet Jobs"

München · Wilfried Hüntelmann über Wege aus der Corona-Krise

Wilfried Hüntelmann: "Meine Kollegen sind sich in dieser Situation ihrer Rolle und der Verantwortung, die sie tragen, sehr bewusst." Foto: Agentur für Arbeit

Wilfried Hüntelmann: "Meine Kollegen sind sich in dieser Situation ihrer Rolle und der Verantwortung, die sie tragen, sehr bewusst." Foto: Agentur für Arbeit

München · Welche Auswirkungen hatte Corona bislang auf den Münchner Arbeitsmarkt und auf die Menschen? Wilfried Hüntelmann, Vorsitzender der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit München, zieht im Gespräch mit Johannes Beetz Bilanz und erklärt, wie die Agentur in der Krise hilft.

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Münchner Wochenblatt: „Vor Corona“ war München in vielen Dingen fast eine Insel der Seligen – mit Vollbeschäftigung und enormer wirtschaftlicher Zugkraft. Können wir nach der Krise daran anknüpfen oder werden wir uns auf einen dauerhaft anderen Rahmen einstellen müssen?

Wilfried Hüntelmann: Die Zahl der arbeitslos gemeldeten Menschen ging in München seit 2015 im Jahresdurchschnitt stetig zurück und Monat für Monat konnten wir neue Rekorde vermelden. Die Pandemie hat den Münchner Arbeitsmarkt 2020 dann ordentlich auf den Kopf gestellt und den jahrelangen Aufwärtstrend im März jäh gestoppt. Kurzfristig wird die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt vor allem davon abhängen, wie lange und in welchem Umfang die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie noch erforderlich sein werden.

„Deutlicher Anstieg der Arbeitslosigkeit“

Welche unmittelbaren Auswirkungen hat Corona auf den Münchner Arbeitsmarkt? Was kann man da an den Zahlen 2020 ablesen? Haben viele Menschen ihre Jobs verloren?

Wilfried Hüntelmann: Die Arbeitslosenzahl stieg im Jahresdurchschnitt 2020 in München im Vergleich zum Vorjahr um 13.640 auf 48.348. Dies waren fast 40 Prozent mehr Menschen als in 2019. Den Höhepunkt der Arbeitslosmeldungen erreichten wir im April: So stieg hier die Zahl der betroffenen Personen innerhalb eines Monats um 9.363. Mit den Lockerungen erholte sich der Arbeitsmarkt langsam und die Arbeitslosigkeit ging seit Spätsommer kontinuierlich zurück und erreichte im Dezember mit 48.904 ihren Tiefstand während der Pandemie. Wie Sie sehen, verzeichnen wir einen deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit im Vergleich zu den Vorjahren, aber das Ganze wäre viel schlimmer ausgefallen, hätten wir nicht die Kurzarbeit eingesetzt.

„Für die Menschen gut erreichbar“

Die Menschen sind ja auf unterschiedliche Weise von der Krise getroffen: Manche bangen um ihre Existenz, andere müssen mit Kurzarbeit und Einbußen über die Runden kommen, wieder andere finden keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz. Wie kann die Agentur für Arbeit den Menschen in diesen unterschiedlichen Lebenssituationen helfen?

Wilfried Hüntelmann: Mir ist wichtig, dass wir für die Menschen gut erreichbar sind. Derzeit geht das via Telefon oder online. Auf der einen Seite fokussieren wir uns auf die rasche Bearbeitung und Auszahlung von Geldleistungen für Arbeitnehmer / -innen sowie Arbeitgeber. Auf der anderen Seite nimmt das Thema Beratung einen hohen Stellenwert ein. Persönliche Gespräche führen wir per Telefon durch und, sobald es die Lage wieder zulässt, auch in besonders ausgestatteten Büros. Hinzu kommen Videoberatungen, die wir derzeit ausbauen.

Gerade für die Jugendlichen ist es enorm wichtig, sich persönlich, von Angesicht zu Angesicht, mit ihren Beratern auszutauschen. Personen, die eine Weiterbildung machen möchten, eine Stelle suchen oder nicht wissen, wie es weitergehen soll, wenden sich telefonisch oder via Mail an die Agentur für Arbeit. Mit ihrem jeweiligen Vermittler erarbeiten sie eine Plan und nehmen gegebenenfalls an einer Weiterbildung teil - diese natürlich auch online. Für Arbeitgeber sowie Arbeitnehmer gibt es seitens der Agentur für Arbeit verschiedene Angebote‚ um sie individuell auf ihrem Weg aus der Krise hinaus in die Zukunft zu begleiten.

Welche Branchen hat die Krise besonders getroffen und welche sind eher stabil geblieben?

Wilfried Hüntelmann: Besonders deutlich war der Stellenrückgang zum Beispiel in der Zeitarbeit, im Hotel- und Gastgewerbe, im Messe- und Eventbereich oder in Teilen des Handels. Aber es gibt auch Branchen wie zum Beispiel das Gesundheits- und Sozialwesen, der Bau, IT-Dienstleistungen, die öffentliche Verwaltung oder der Lebensmittel- und Online-Handel, die Personal suchen.

Wie funktioniert die Kurzarbeit?

Die Kurzarbeit ist ein Segen: Sie hat viele Betriebe und ihre Mitarbeiter schlicht gerettet. Für alle, die keine Fachleute sind: Können Sie das System Kurzarbeit in drei Sätzen erklären?

Wilfried Hüntelmann: Kurzarbeit bedeutet, dass die Betriebe die Arbeitszeit ihrer Angestellten reduzieren können, weil es zu wenig zu tun gibt – zum Beispiel von 40 Stunden pro Woche auf nur 20 Stunden. Melden Arbeitgeber bei der Agentur für Arbeit Kurzarbeit an, übernimmt die Agentur für Arbeit einen Teil der Löhne, sodass die Arbeitgeber Geld sparen und ihr Personal nicht entlassen müssen. Je nach Dauer der Kurzarbeit gleicht die Agentur für Arbeit mit dem Kurzarbeitergeld 60 bis 80 Prozent, bei Vätern und Müttern 67 bis 87 Prozent des entgangenen Nettoeinkommens wieder aus.

Welche Rolle spielt die Kurzarbeit aktuell?

Wilfried Hüntelmann: Seit dem Beginn der Pandemie sind viele Arbeitgeber sowie auch die betroffenen Arbeitnehmer natürlich sehr in Sorge und stehen zum Teil vor existenziellen Nöten. Die hohe Inanspruchnahme der Kurzarbeit in München zeigt uns, dass die Arbeitgeber an ihren Mitarbeiter / -innen festhalten und auch die Zeit nach Corona im Blick haben. Dieses Instrument rettet Jobs und bewahrt die Betriebe vor einem späteren Fachkräftemangel.

„Der Strukturwandel wird beschleunigt“

Viele Besorgungen werden gerade kontaktlos – online – erledigt. Manche Branchen hatten schon vor Corona im Onlinehandel eine große Konkurrenz. Werden der stationäre, lokale Einzelhandel und seine Mitarbeiter nach der Krise nicht eine weitere Krise erleben - weil manches, was jetzt verloren geht, dauerhaft wegbleiben wird?

Wilfried Hüntelmann: Der Strukturwandel im Handel wird durch Corona beschleunigt. Während der stationäre Handel unter dem Lockdown leidet, werden im Online-Handel Mitarbeiter gesucht. Für den Handel in der Innenstadt bedeutet dieser Wandel ein rasches Umdenken zu einem Geschäftsmodell, das Offline- und Online-Handel ermöglicht. Wir unterstützen Betriebe, wenn es darum geht, ihre Beschäftigten gezielt auf neue Tätigkeiten zu qualifizieren, um den Strukturwandel zu gestalten und sich fit für die Zukunft zu machen.

„Es lohnt sich, einen Abschluss nachzuholen“

Wer sich weiterbildet und qualifiziert, vertraut auf eine Perspektive. Die ist für viele Menschen derzeit kaum erkennbar. Sie raten vermutlich jedem, sich auch jetzt weiterzubilden. Lohnt sich das wirklich angesichts der doch unklaren Zukunftsaussichten?

Wilfried Hüntelmann: Wichtig ist, dass die Menschen uns kontaktieren und mit einem Vermittler sprechen. Gemeinsam schaut man sich die individuelle Situation an und erarbeitet einen Plan für die Zukunft. Weiterbildung muss man aber immer im Einzelfall beurteilen und sie soll natürlich nicht in Blaue hinein gehen, sondern Jobperspektiven konkret verbessern. In jedem Fall lohnt es sich, einen Berufsabschluss nachzuholen. Sie ist die Grundlage für eine nachhaltige Beschäftigung in der Zukunft. Es gibt Jobs in verschiedenen Branchen. Sei es in der Pflege und Erziehung, in verschiedenen Bereichen der IT, in Bäckereien oder im Bereich Transport.

Große Sorgen machen sich derzeit Schüler, die vor dem Abschluss stehen, und ihre Eltern: Werden Sie überhaupt Betriebe finden, die ausbilden?

Wilfried Hüntelmann: Trotz Corona haben bislang die meisten Betriebe an ihrer Ausbildungsbereitschaft festgehalten. Viele junge Menschen konnten sich somit im letzten Jahr ihren Wunschausbildungsplatz sichern. Auch in diesem Jahr ist die Bereitschaft zur Ausbildung bei vielen Betrieben gegeben. Etwas zurückhaltender zeigen sich aktuell noch die Betriebe, die unmittelbar von Corona betroffen sind. Sobald der Lockdown vorbei ist, rechnen wir aber mit einem Zuwachs der Ausbildungsstellen.

Gegenwärtig ist es kaum möglich, Praktika zu machen. Die Berufsorientierung in den Schulen kann nicht stattfinden. Die oft ohnehin schwierige Berufswahl wird heuer noch schwieriger. Wie unterstützen Sie Jugendliche?

Wilfried Hüntelmann: Aufgrund der Pandemie müssen Face-to-Face-Ausbildungsmessen abgesagt werden und auch wertvolle Praktika sind selten möglich - Gelegenheiten, bei denen Jugendliche und Unternehmen sich normalerweise kennenlernen und ins Gespräch kommen. Umso wichtiger ist es jetzt, dass die Jugendlichen auf uns zukommen. Die Berufsberatung der Agentur für Arbeit bietet Beratungsgespräche via Video oder Telefon an, sobald es die Lage zulässt auch in Schulen und in der Agentur. Auch in Zeiten von Corona besteht ein enger Austausch mit den Schulen und Lehrkräften. Wo immer es geht, bieten unsere Berater ein Online-Programm für die Schüler an. Hier erhalten sie Informationen rund um das Thema Ausbildung und können Fragen stellen. Darüber hinaus finden in regelmäßigen Abständen Live-Chats auf Youtube statt.

„Die Zeit für die Weiterbildung nutzen“

Vor der Krise haben wir oft vom immer spürbarer werdenden Fachkräftemangel gesprochen. Verschärft Corona das Problem oder sorgt die Krise hier für eine „Verschnaufpause“?

Wilfried Hüntelmann: Corona hat das Thema Fachkräftemangel überlagert. Aber selbst in diesen Zeiten bleibt er eine Herausforderung, wenn man z.B. an die Pflege denkt oder den IT-Bereich. Kurzarbeit bewahrt Betriebe vor einem späteren Fachkräftemangel. Mir wäre wichtig, dass Unternehmen gerade jetzt die Zeit für die Weiterbildung ihrer Beschäftigten nutzen, denn das Thema Fachkräftemangel aber auch nach der Krise wieder oben auf der Tagesordnung. Arbeitgeber erhalten auch während der Kurzarbeit finanzielle Unterstützung für die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter/-innen durch die Agentur für Arbeit.

Artikel vom 22.02.2021
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