Hohe Auszeichnung für Kinderbuchsammlerin und -forscherin Dr. Barbara Murken

Abenteuerliche Schatzsuche in Israel

Gerne las und liest Barbara Murken ihren Kindern und Enkeln aus ihren Bilderbuchschätzen vor. Hier lauschen sechs der zehn Enkel den Geschichten aus dem Buch »Das rote Pferd« von 1927. 	Foto: privat

Gerne las und liest Barbara Murken ihren Kindern und Enkeln aus ihren Bilderbuchschätzen vor. Hier lauschen sechs der zehn Enkel den Geschichten aus dem Buch »Das rote Pferd« von 1927. Foto: privat

Ottobrunn · Für ihr Engagement in Sachen Bilderbücher wurde die Ottobrunner Kinderbuchsammlerin und -forscherin Dr. Barbara Murken Ende 2017 mit dem Volkacher Taler der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur ausgezeichnet.

Die Jury begründete ihre Entscheidung damit, dass sich Barbara Murken nicht nur durch ihre Sammlung, sondern auch aufgrund ihrer zahlreichen Veröffentlichungen über in Vergessenheit geratene Verleger, Illustratoren und Autoren aus den 1920ern große Verdienste erworben hat. Mein Ottobrunn sprach mit der 72-jährigen Ärztin über die Anfänge ihrer Sammlerleidenschaft, ihre interessanten Kontakte zu Künstlern und deren Familien sowie über aktuelle Projekte.

MO: Frau Dr. Murken, wie sind Sie auf die Idee gekommen, Bilderbücher zu sammeln?

Barbara Murken: Als Kind hatte ich so gut wie keine Bücher, was ich als großen Mangel empfunden habe. Ich bin 1945 in Thüringen geboren, hatte vier ältere Brüder und kam 1951 nach München. 1959 zogen wir nach Ottobrunn. Bei einer Schulfreundin habe ich zum ersten Mal eine kleine Kinderbuch-Bibliothek gesehen. Das wollte ich auch gerne. Speziell die Schönheit der Bilderbücher hat mich in den Bann gezogen. Als Medizinstudentin bin ich Mitte der 1960er dann oft in den Schwabinger Antiquariaten und auf Flohmärkten unterwegs gewesen und habe meine ersten Bilderbücher gekauft.

MO: Wie würden Sie Ihre Sammlung beschreiben?

Barbara Murken: Sie umfasst etwa 1.000 Bücher und reicht von den Anfängen des Bilderbuchs im 17. Jahrhundert bis etwa ins Jahr 1950. Besonders angetan haben es mir die Kinderbücher und deren Künstler aus den 1920er Jahren.

MO: Weshalb gerade diese Zeitspanne?

Barbara Murken: Damals gab es einen ganz neuen Ansatz in der Kunsterziehung. Kindern sollte eigene, gute Kunst angeboten werden. Bekannte Künstler engagierten sich nun auch fürs Bilderbuch. Kinder galten nicht länger als kleine Erwachsene, sondern wurden als eigene Seelen- und Denkwesen gesehen.

MO: Haben Sie einen bevorzugten Autor oder ein Lieblingsbuch aus dieser Zeit?

Barbara Murken: Die jüdische Künstlerin Tom Seidmann-Freud, eine Nichte von Sigmund Freud, ist eine meiner Lieblingsautorinnen (Die Künstlerin hieß eigentlich Martha Gertrud; mit 15 Jahren nahm sie den männlichen Vornamen Tom an; Anm. d. Red.). Ihr utopisches Märchen »Die Fischreise« von 1923 gehört zu meinen Lieblingsbüchern. Diese originelle Künstlerin ist mir aufgefallen, als ich vor vielen Jahren eine außergewöhnliche Illustration von ihr entdeckt habe. Das Stilistische, Klare im Stil der Neuen Sachlichkeit faszinierte mich. Ich wollte unbedingt mehr über sie wissen. Doch obwohl Tom Seidmann-Freud in den 1920er Jahren sehr erfolgreich Kinderbücher schrieb und zeichnete, war nur wenig über sie bekannt. Ich wusste nur, dass sie eine Tochter hatte, die »verschwunden« war. Das weckte meine Neugier und ich begann mit der Suche. Letztlich wurde daraus meine erste umfassende Forschung über diese Künstlerin.

MO: Konnten Sie die Tochter finden?

Barbara Murken: Ja, aber das war ein größeres Abenteuer. 1978 verschickte ich etwa 300 Briefe in alle Welt und habe sie schließlich in Israel ausfindig gemacht. Aber sie wollte keinen Kontakt zu mir, weil ich Deutsche war. Ich habe mich an einen jüdischen Religionswissenschaftler gewandt, den ich bei meinen Forschungen kennengelernt hatte. Er hatte früher mit Tom Seidmann-Freud in einer WG in München gewohnt. Ihm gelang es schließlich, die Meinung der Tochter zu ändern. Sie schrieb mir einen Brief und lud mich nach Israel ein. Dort durfte ich eine Riesentruhe mit dem Nachlass der Mutter öffnen – mit Büchern, Skizzen, Entwürfen und Andrucken. Das war ein unbeschreiblich schöner Moment. Damit hatte ich alle entscheidenden Daten aus erster Hand, um Leben und Werk der Künstlerin präzise zu rekonstruieren. Mein Mann konnte alles fotografieren. Daraus resultierten viele Veröffentlichungen in Fachzeitschriften und Vorträge. Ich bin froh und dankbar, dass ich dazu beitragen konnte, Tom Seidmann-Freud und ihrem Werk ein Forum gegeben zu haben.

MO: Ist das Werk ihrer Lieblingskünstlerin seither mehr im Fokus der Kinderliteratur?

Barbara Murken: Auf jeden Fall. Vor zehn Jahren wurde »Die Fischreise« nachgedruckt. Im vergangenen Jahr stellte die »documenta 14« in Kassel zwei große Vitrinen mit Märchenbüchern von Tom Seidmann-Freud aus, zu denen ich im Vorfeld als Expertin hinzugezogen wurde. Auch im jüdischen Museum in Berlin ist seit einigen Jahren eine Vitrine mit ihren Werken ausgestellt.

MO: Sie begannen mit Anfang 20 zu sammeln. Inwiefern spielte Ihre Bilderbuch-Sammlung später in Ihrer Familie mit den vier Kindern eine Rolle?

Barbara Murken: Mein Mann brachte achtjährige Zwillingssöhne mit in unsere Ehe; so wurde ich auf einen Schlag Mutter. Meine Bücher halfen recht schnell, Gemeinsamkeiten zu finden. Die Jungs liebten es, wenn wir zusammen über die Flohmärkte schauten. Bei meinem ersten Vortrag über Kinderbücher im Jahr 1974 habe ich die beiden gebeten, die Bilderbuch-Beispiele auszusuchen. Ich wollte wissen, was für die Kinder selbst interessant und spannend ist. Und sie fühlten sich dadurch ernstgenommen. Es war eine gegenseitige Bereicherung. Später, als unsere Töchter heranwuchsen, war ich öfters an den Schulen und habe zum Beispiel die Kinderbücher der NS-Zeit im Geschichtsunterricht vorgestellt. Inzwischen ist eine meiner Töchter selbst Geschichtslehrerin und bezieht meine Bücher in ihren Unterricht mit ein.

MO: Womit beschäftigen Sie sich momentan?

Barbara Murken: Ich bin wieder einmal auf einen interessanten Künstler gestoßen, der bisher wenig bekannt ist: B. F. Dolbin. Wie auch Tom Seidmann-Freud publizierte dieser Wiener Karikaturist, der in den 1920er Jahren nach Berlin ging, im »Herbert Stuffer Verlag« – bis die Nazis seine Bücher verboten und er ins Exil in die USA ging. Außerdem habe ich noch ein Riesenprojekt vor mir: die Digitalisierung meiner Bücher und Materialien.

MO: Viel Erfolg bei den Projekten und vielen Dank fürs Gespräch!

Artikel vom 05.03.2018
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