Zu Hause in Bayern

Was Heimat für die Sudetendeutschen in München bedeutet

Der tschechische Kulturminister Daniel Herman sprach beim Sudetendeutschen Tag in Nürnberg von »Vertreibung« und äußerte sein Bedauern.	Foto: sudeten.de

Der tschechische Kulturminister Daniel Herman sprach beim Sudetendeutschen Tag in Nürnberg von »Vertreibung« und äußerte sein Bedauern. Foto: sudeten.de

München · Was ist Heimat? Der Ort, in dem man geboren wurde? Der Ort, in dem man aufgewachsen ist? Der Ort, an dem Familie und Freunde leben? Oder ist Heimat kein Ort, sondern ein Gefühl? Für viele Menschen ist das alles auch heute noch weitgehend identisch. Aber nicht für alle.

Weiterer Artikel zum Thema
So seh ich das! Zum Sudetendeutschen Tag
Artikel vom 10.06.2016: Samstagsblatt München-Redakteur Carsten Clever-Rott über die Notwendigkeit des Dialogs

Schätzungen gehen aktuell von weltweit rund 60 Millionen Menschen aus, die auf der Flucht sind. Die Deutschen haben in ihrer Historie immer wieder Flüchtlinge aufgenommen und ihnen geholfen. In der jüngeren Vergangenheit waren das zumeist Bürgerkriegsflüchtlinge aus Ländern wie Syrien, Afghanistan oder in den 90ern das ehemalige Jugoslawien. Die Menschen, die vor 70 Jahren in die Bundesrepublik kamen, flüchteten nicht vor Bürgerkrieg. Sie waren selbst Deutsche und verstehen sich nicht als Flüchtlinge, denn sie wurden aus ihrer Heimat vertrieben.

Die Rede ist von den Sudetendeutschen, die unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg, noch im Frühsommer 1945 die ganze Wut ihrer von den Nazis unterdrückten tschechischen Nachbarn zu spüren bekamen. Fanden zunächst »nur« wilde Vertreibungen statt, so wurden die Deutschen im Gebiet der Tschechoslowakei ab 1946 von staatlicher Seite »abgeschoben«, wie die offizielle Sprachregelung dort besagte. Rund drei Millionen Sudetendeutsche mussten in ein Land emigrieren, das laut ihrer Nationalität ihre Heimat war. Im Westen wurden nicht wenige misstrauisch als Fremde beäugt. Heimat lässt sich nicht verordnen. Diese Menschen waren heimatlos. Viele ließen sich im Raum München nieder, wo sie in der Folge an Ansehen hinzugewannen. »Die Sudetendeutschen spielen in Bayern eine Rolle wie sonst nirgends«, sagt Bernd Posselt, Sprecher und Bundesvorsitzender der Sudetendeutschen Landsmannschaft.

München hat für die Sudetendeutschen immer eine wichtige Rolle eingenommen. 1948 wurde hier die erste Kreisgruppe der Sudetendeutschen Landsmannschaft gegründet. 13-mal fand hier der Sudetendeutsche Tag statt. 1985 wurde das Sudetendeutsche Haus in der Hochstraße (Au) eingeweiht. 2018 soll in direkter Nachbarschaft das Sudetendeutsche Museum eröffnet werden.

Aber wie ist das nun mit dem Begriff »Heimat«? Posselt, 1956 in Pforzheim geboren, sagt: »Ich bin Sudetendeutscher.« Sehr deutlich für einen, der in der Heimat seiner Eltern nicht gelebt hat. Andere Nachgeborene hätten diese starke Bindung so nicht gefühlt, erzählt der langjährige Europaabgeordnete: »Sie haben ihre Identität verborgen, weil sie sonst Ablehnung befürchten mussten. Sie wollten sich assimilieren und haben das auch gemacht.« Akzeptiert worden seien die Vertriebenen mit der Zeit, »aber man gehörte nicht so ganz dazu«. Für viele gab es die Heimat nur noch in der Erinnerung, für die Nachgeborenen nicht einmal das.

Bei der Aussöhnung wird München immer wieder Schauplatz sein

Bei den jüngeren Nachgeborenen gebe es inzwischen wieder ein verstärktes Interesse an ihrer Herkunft. »Sie müssen nicht mehr beweisen, dass sie Teil unserer Gesellschaft sind«, sagt Posselt. Die Herkunft sei keine Belastung mehr, sondern eine Bereicherung. Der CSU-Politiker hat in der Frage der Definition von »Heimat« den Begriff »Wurzelheimat« für die Region geprägt, wo ein Mensch seine Wurzeln hat, besonders eben die Sudetendeutschen, von denen heute keiner mehr in seiner Heimatgemeinde lebt. »Inzwischen hat fast jeder dritte Bayer familiäre Verbindungen zu den Sudetendeutschen«, weiß Posselt.

Bei der Pflege der Wurzelheimat gehe es nicht darum, alte Wunden künstlich offenzuhalten. Mit diesem Vorwurf – sowohl aus Tschechien als auch aus Deutschland kommend – mussten sich die Sudetendeutschen lange auseinandersetzen. Doch das Bewusstsein seiner Wurzelheimat habe einen anderen wichtigen Aspekt. Im Wissen um die Ereignisse zwischen 1919 und 1949 mahnt dieses Bewusstsein: Nie wieder!

Das friedliche Zusammenleben mit den Tschechen gehört zu den erklärten Zielen der Sudetendeutschen Landsmannschaft, zusammen mit einer aktiven Verständigungsarbeit mit der Tschechischen Republik. Beim Sudetendeutschen Tag an Pfingsten in Nürnberg nahm mit Kulturminister Daniel Herman erstmals ein Mitglied der tschechischen Regierung teil. Er drückte in einer Rede auf Deutsch das Bedauern über die Vertreibung aus. Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer bezeichnete dieses Zugeständnis als »historisch«. Nach 70 Jahren ist die Aussicht auf Aussöhnung so groß wie noch nie. »Die Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte kann zu einer stärkeren Freundschaft zwischen Deutschen und Tschechen führen«, ist Posselt überzeugt. Dabei wird München immer wieder ein wichtiger Schauplatz sein.

Von Carsten Clever-Rott

Artikel vom 10.06.2016
Auf Facebook teilen / empfehlen Whatsapp

Weiterlesen





Wochenanzeiger München
 
Kleinanzeigen München
 
Zeitungen online lesen
z. B. Samstagsblatt, Münchener Nord-Rundschau, Schwabinger-Seiten, Südost-Kurier, Moosacher Anzeiger, TSV 1860, ...