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Veröffentlicht am 21.02.2017 12:45

„Die meisten Menschen sterben, wie sie gelebt haben”


Von iab
Prof. Gian Domenico Borasio ist einer der führenden Palliativmediziner Europas. (Foto: Univeristät Lausanne)
Prof. Gian Domenico Borasio ist einer der führenden Palliativmediziner Europas. (Foto: Univeristät Lausanne)
Prof. Gian Domenico Borasio ist einer der führenden Palliativmediziner Europas. (Foto: Univeristät Lausanne)
Prof. Gian Domenico Borasio ist einer der führenden Palliativmediziner Europas. (Foto: Univeristät Lausanne)
Prof. Gian Domenico Borasio ist einer der führenden Palliativmediziner Europas. (Foto: Univeristät Lausanne)

Prof. Gian Domenico Borasio ist Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin in Lausanne. Er ist einer der führenden Palliativmediziner Europas und Verfasser des Buches „Über das Sterben”. Wochenanzeiger-Volontärin Isabella-Alessa Bauer stellte ihm einige Fragen zu Leben, Tod und allem, was dazwischen liegt:

„Nur fünf Prozent sterben einen plötzlichen Tod”

Herr Borasio, Sie schreiben, dass Sie Ihre Zuhörer bei Vorträgen gerne nach den Wünschen für das eigene Sterben befragen. Etwa drei Viertel geben an, dass Sie plötzlich und unerwartet aus voller Gesundheit heraus sterben wollen. Wie sieht die Realität aus?

Gian Domenico Borasio: Die Realität sieht anders aus. Nur etwa fünf Prozent der Menschen sterben einen plötzlichen Tod aus voller Gesundheit heraus (zum Beispiel durch Unfall oder Herzinfarkt). Ungefähr 90 Prozent der Menschen werden in Zukunft an chronischen Erkrankungen sterben. Sie werden – besser gesagt: wir alle werden – beim Sterben in der Regel sehr alt und pflegebedürftig sein sowie an vielen Krankheiten gleichzeitig leiden, darunter oft an Demenz. Darauf sollte sich das Gesundheitssystem eigentlich einstellen, tut es aber leider nicht. Wir haben in Lausanne kürzlich die weltweit erste Professur für geriatrische Palliativmedizin eingerichtet – ein erster kleiner Schritt.

„Tod wird in medizinische Einrichtungen 'verbannt'”

Früher wurde der Tod als Ritual zelebriert: Angehörige hielten Wache bei ihren Toten, wuschen sie und kleideten die Verstorbenen an. Es wurde Abschied genommen, oft über Tage hinweg. Heute haben viele Menschen auch im Alter von 30, 40 oder 50 Jahren noch nie einen Toten gesehen. Verliert die Gesellschaft den Bezug zum Sterben, zum Tod?

Gian Domenico Borasio: Einerseits leben wir in eine Gesellschaft, die vom Wahn der ewigen Jugend und der immerwährenden Gesundheit besessen zu sein scheint. Man braucht sich nur die Werbung anzugucken. Der Tod wird in medizinische Einrichtungen „verbannt”, die früher üblichen Totenwachen gibt es praktisch nicht mehr. Kindern wird es verwehrt, von ihren verstorbenen Großeltern Abschied zu nehmen – wie sollen sie da noch ein vernünftiges Verhältnis zu Tod und Sterben entwickeln?

Andererseits, und erfreulicherweise, möchten immer mehr Menschen etwas über Tod und Sterben erfahren. Es gibt inzwischen eine Vielzahl von Büchern darüber, und die Anzahl der Menschen, die sich aktiv mit der eigenen Endlichkeit auseinandersetzt, nimmt stetig zu. Inzwischen hat in Deutschland mehr als die Hälfte der Sterbenden eine Patientenverfügung, das wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen.

„Benennung eines Bevollmächtigten”

Menschen, die nicht plötzlich sterben, beobachten häufig über Jahre hinweg, wie sich ihr Allgemeinzustand verschlechtert. Mit den Angehörigen sprechen oder Vorkehrungen treffen, tun aber die wenigsten. Sterben ist noch immer ein Tabu-Thema. Wie kann man dem entgegen wirken?

Gian Domenico Borasio: Es gibt drei einfache Regeln für gute Entscheidungen am Lebensende: erstens reden, zweitens reden, drittens reden. Wenn ich möchte, dass meine Wünsche und Vorstellungen respektiert werden, dann muss ich sie auch den Menschen, die mir nahestehen, kundtun. Viele Menschen wissen zudem nicht, dass es in Deutschland keine automatische Vertretung eines entscheidungsunfähigen Menschen durch seinen Ehepartner oder seinen Angehörigen gibt. Daher ist die Benennung eines Bevollmächtigten besonders wichtig. Denn das Wort des Bevollmächtigten zählt im Ernstfall genauso, als ob es der Patient selbst sagen würde.

Es ist aber auch Aufgabe der Gesellschaft, diesen Dialogprozess durch das Abbauen von Tabus und die Bereitstellung von kompetenter Hilfe zu erleichtern. Initiativen wie „Hospiz in der Schule” sowie die kürzlich gesetzlich verankerte Förderung der sogenannten „gesundheitlichen Vorausplanung” in Alten- und Pflegeheime sind wichtige Schritte in die richtige Richtung.

„Über die eigenen Wünsche und Prioritäten reden”

Sterben ist der intimste Prozess, den man sich vorstellen kann. Meist ist das Sterben aber nicht selbstbestimmt. Ärzte, Angehörige oder gar Fremde entscheiden im Zweifelsfall, wie lange der Sterbeprozess dauert. Welche Vorkehrungen sind essentiell, wenn ein Patient diesen Zweifelsfall verhindern, wenn er selbstbestimmt sterben möchte?

Gian Domenico Borasio: Selbstbestimmung am Lebensende hat ganz unterschiedliche Facetten. Für viele Menschen sind Fragen wie „Welche Erinnerung wird von mir bleiben?” oder „Wie wird es meiner Familie nach meinem Tod ergehen?” wichtiger als die Frage, wie ihre letzte Lebensphase verlaufen wird. Wer sich vor Übertherapie schützen möchte, sollte eine Patientenverfügung verfassen, einem Menschen seines Vertrauens eine Vorsorgevollmacht ausstellen, und mit diesem ausführlich über die eigenen Wünsche und Prioritäten reden. Erläuterungen und Formulare hierzu findet man in der Vorsorgebroschüre des Bayerischen Justizministeriums, die kürzlich aktualisiert wurde und kostenlos im Internet herunterzuladen ist ( www.bestellen.bayern.de , suchen nach „Patientenverfügung”).

Es gibt aber auch Menschen, für die Selbstbestimmung etwas ganz Anderes bedeutet, nämlich sich vertrauensvoll in die Obhut anderer Menschen zu begeben. Und man findet in wissenschaftlichen Studien bei praktisch allen Sterbenden eine Werteveränderung hin zum Altruismus, die eine deutliche Verbesserung ihrer Lebensqualität bewirkt. Vielleicht steckt darin auch eine Botschaft an uns alle?

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