Veröffentlicht am 07.12.2016 10:52

„Die Sorgen der Menschen ernst nehmen”

Rainer Pethran. (Foto: pi)
Rainer Pethran. (Foto: pi)
Rainer Pethran. (Foto: pi)
Rainer Pethran. (Foto: pi)
Rainer Pethran. (Foto: pi)

Politisches Interesse stabilisiert eine Gesellschaft: Interessierte Bürger sind informierte Bürger. Wer weiß, wie Demokratie funktioniert und versteht, was passieren kann, wenn Demokratie nicht mehr klappt, engagiert sich mehr, diskutiert früher und ist weniger anfällig für Vorurteile. Nimmt man die Mitgliederzahlen der beiden großen „Volks“-Parteien als Maßstab politischen Interesses, scheint Sorge angebracht: Sowohl CDU als auch SPD verlieren seit der Wiedervereinigung kontinuierlich Mitglieder. Im Jahr 1990 hatten 789.609 Deutsche ein Parteibuch der CDU; 2014 waren es noch 457.488. Das ist ein Verlust von über 42 Prozent. Die SPD war zur Wende zahlenmäßig stärker als die CDU, 943.402 Menschen waren Mitglied. Auch Ende 2014 lagen die „Roten“ mit 459.902 Mitgliedern noch vor den Christdemokarten. Gemessen am Stand von 1990 allerdings hat die Partei über 51 Prozent ihrer Mitglieder verloren.

Dem gegenüber stehen diese Zahlen und Bilder: Rund 70.000 Menschen gehen allein in der Hauptstadt Berlin auf die Straße, um gegen TTIP und CETA, die Handelsabkommen mit den USA und Kanada, zu protestieren; in München versammeln sich 20.000 Menschen. Oder die Aufnahmen vom Münchner Hauptbahnhof, die um die Welt gehen: Hunderte Helfer strömen zusammen, um Geflüchtete in Deutschland zu begrüßen. Nicht an politischem Interesse generell fehlt es also, lediglich den etablierten Parteien wird zunehmend das Vertrauen entzogen – lässt sich die Lage so zusammenfassen, ist damit der Aufschwung populistischer Parteien zu erklären? Überhaupt – müssten es die Menschen nicht besser wissen, nach Jahren des Geschichtsunterrichts zum Scheitern der Weimarer Republik? Also doch nicht genug Interesse, nicht genug Information?

„Beteiligung ist selbstverständlich”

Die alte Generation: Josefine Glanert, Regierungsdirektorin a.D., 68 J.

Für mich als Vertreterin der Post-Arbeitsleben-Generation ist es selbstverständlich, mich in das politische Leben einzufügen. Das heißt in unserer repräsentativen Demokratie vor allem, sich an Wahlen zu beteiligen. Nichtwählen kommt für mich nicht in Frage, da die Vergangenheit gezeigt hat, dass man dadurch nichts erreicht und jenen Parteien das Feld überlässt, die man eigentlich nicht wollte. Mein Wahlverhalten hat sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert - natürlich habe ich als Erst- und Zweitwähler wagemutig auch „Nischenparteien“ gewählt, bin aber im Prinzip seither der Partei treu geblieben, die meine Ansprüche in hohem Maß erfüllt.

Politisches Interesse und das Interesse an politischer Partizipation hängen stark mit dem formalen Bildungsgrad zusammen, wie in Untersuchungen immer wieder festgestellt wurde. Das Bildungsniveau wirkt sich auf die politische Kompetenz und die Akzeptanz der Demokratie aus, da politisch interessierte Bürger zu den Grundpfeilern der Demokratie gehören. Insofern ist der Aufstieg der Populisten bei uns und anderswo in Europa tendenziell gefährlich für die Demokratie - vor allem durch ihren Anspruch, als einzige Politiker das Volk und seine Sorgen zu verstehen, gleichzeitig Andersdenkende zu verteufeln und den politischen Gegner moralisch zu disqualifizieren. Meiner Meinung nach sind solche populistische Parteien daher für Demokraten unwählbar.

Diese bedenkliche Entwicklung hat sicher auch zu tun mit der (Ost-)Erweiterung der Europäischen Union. Die fortschreitende territoriale und politische Integration führt dazu, dass Nationalstaaten in Teilen ihre Souveränität abgeben und sich politischen und wirtschaftlichen Prozessen ausgesetzt sehen, die Gewinner und Verlierer hervorbringen. Gegensätze und Konflikte treten dadurch zutage bzw. verschärfen sich, der Nationalstaat sieht sich geschwächt. Solche Identitätsprobleme und Zukunftsängste können dann den Aufwuchs populistischer Parteien fördern. Die verantwortende Politik und ihre Repräsentanten haben daher die Pflicht, die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen und ihre Entscheidungen transparent und nachvollziehbar zu machen.

Gesamteuropa, eine gemeinsame EU, ist meines Erachtens aber ohne Alternative in unserem 21. Jahrhundert; Kleinstaaterei passt nicht mehr zu unseren politischen, ökonomischen und kulturellen Verschmelzungsprozessen. In meiner Familie gab und gibt es über diese Frage einen Konsens – schon meine Eltern, die noch vom Zweiten Weltkrieg geprägt waren, sahen in „Europa“ und der territorialen und politischen Integration die Chance, eine Entwicklung wie das Dritte Reich zu vermeiden. Meine Kinder, der jungen Generation zugehörig, wurden durch Schule, Elternhaus und Großeltern entsprechend sozialisiert und haben dadurch ihr Demokratieverständnis entwickelt, das auch ihre Pflichten in unserer Gesellschaft impliziert.

„Lösungen sterben oft im Formalismus”

Die mittlere Generation: Rainer Pethran, Geschäftsführer GMF GmbH & Co. KG., 65 J.:

Politik bezeichnet die Regelung der Angelegenheiten des Gemeinwesens durch verbindliche Entscheidungen. Der Politiker oder seine Partei erhalten einen Auftrag vom Bürger per Wahl, diese Angelegenheiten für ihn subsidiarisch wahrzunehmen. Das ist Theorie – die gelebte Wahrheit ist, dass Politik ein Interessensausgleich ist. Bei aller Kritik, die an die Politik gerichtet ist – wären die Politik und ihre Vertreter nicht da, hätte der Bürger kein Gemeinwesen, das er in unserem Land mit vergleichsweise hohem Komfort nutzen kann. Diejenigen, die also kritisieren, könnten durch eigenes Engagement gestalten anstatt passiv zu kritisieren.

„Alte“ bringen Erfahrung ein, Erfahrung ist immer rückwärts gerichtet; sie erhalten so den Bestand. „Junge“ bringen ihre Ideale ein, Ideale sind visionär vorwärts gerichtet, sie vernachlässigen aber Erfahrungen. “Junge“ und „Alte“ nehmen heute zunehmend Abstand von der Politik, weil immer komplexer werdende Themen nicht mehr verständlich sind, Engagement oft nicht belohnt wird und Lösungsansätze im Formalismus sterben. Was fehlt für beide ist die Kommunikation der Politik mit dem Bürger – Auftraggeber der Politiker - , damit er sich verstanden und repräsentiert sowie zum Mitmachen motiviert fühlt, vor allem aber die Rückbesinnung auf den politischen Auftrag und Auftraggeber von Politik.

„Nein, früher war nicht alles besser”

Manuel Wendelin, Kommunikationswissenschaftler, 42 J.:

Ist es tatsächlich das politische Interesse der Bürger, das möglicherweise schwindet oder dessen Ausdruck sich verändert? Vermutlich wäre es besser, hier vom Interesse an der Politik zu sprechen – oder noch besser vom Interesse an dem, was die etablierten Parteien anzubieten haben. Vielleicht darf man die Schuld an einem solchen Rückgang auch nicht nur bei den Bürgern suchen oder Fehler im Geschichts- und Sozialkundeunterricht beklagen. Warum sollten die Bürger heute klüger oder dümmer sein als noch vor 26 Jahren? Die Zeiten haben sich geändert, politische Rahmenbedingungen, aber auch die beruflichen Anforderungen, die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Vielleicht sind Politiker und unflexible Parteistrukturen diesen Wandel nicht ausreichend mitgegangen.

Es scheint in regelmäßigen Abständen in Mode zu kommen, die jeweils aktuelle Jugend als unpolitisch zu bezeichnen. Im Vergleich mit der Studierendenbewegung in den 1960er Jahren verlieren schließlich alle. In Zeiten der Vollbeschäftigung konnte man sich politisches Engagement aber auch eher leisten als wenn man die eigene Existenz durch immer weiter zunehmende Anforderungen an Mobilität und befristete Arbeitsverhältnisse ständig als bedroht empfinden muss. Wie können Parteien da helfen? Karriere wird positiv sanktioniert, das Eintreten für politische Ideen dagegen viel zu wenig. Ist Politik wirklich so handlungsmächtig, wie sie sich selbst gerne stilisiert? Sind es nicht eher die Entscheidungen von Unternehmen, die Einfluss auf unser Leben haben? Sicher, insgesamt geht es uns so gut wie noch nie. Aber auch die Unsicherheit ist groß und das Vertrauensverhältnis zur Politik offensichtlich zerrüttet.

Es gibt Alternativen. Früher haben sich Politikmagazine im Fernsehen über große Zuschaueranteile freuen können. Man konnte aber auch nicht einfach umschalten, weil es sonst nichts gab. Früher konnte man innerhalb des Establishments gegen das Establishment sein. Man hat auch in der Parteienlandschaft seine Vertreter gefunden. Wenn sich aber alle Parteien nur in der Mitte gegenseitig auf die Füße treten, ist das schwierig und öffnet Räume für radikale Sektierer, die allenfalls mit nur einem Bein auf dem Boden der Verfassung stehen und für alle Probleme einfache Lösungen in petto haben. Früher war soziale Isolation die Strafe, die auf Abweichung vom guten politischen Ton verhängt werden konnte. Heute finden sich im Internet für jede noch so abstruse Ansicht Gleichgesinnte, die diesen Bann aufheben. Darin besteht eine große Gefahr. Nein, früher war nicht alles besser, aber vielleicht brauchen wir gerade angesichts des stärker werdenden Populismus als Gegengewicht mehr Politiker innerhalb der etablierten Parteien, die klare Profile haben und dadurch glaubwürdig sind, mit Ecken und Kanten und mit mehr Leidenschaft. Das müssen die Parteien allerdings auch zulassen.

„Verschiedene Generationen besser einbinden”

Simone Boehringer, Journalistin, 44 J.:

Politik hat bei Familien in Städten oft viel mit Verteilung zu tun. Es geht um die Verteilung von Zeit und Geld. Die mittlere Generation der Berufstätigen muss immer mehr erwirtschaften, für die eigene Altersvorsorge wie für die Ausbildung der eigenen Kinder. Dazu benötigen die Menschen Zeit, Arbeitszeit. Je mehr Erwerbsarbeit eine Familie jedoch leistet, desto weniger Zeit hat sie für den eigenen Nachwuchs – und auch für die vielleicht schon pflegebedürftigen Eltern oder Großeltern. Es gibt viele Organisationen, die helfen, diese Lücke zu schließen, KiTas und Pflegeheime, die auffangen, was die Familien heute nicht mehr leisten können. Die zunehmende Arbeitsteilung auf diesen Gebieten führt aber wiederum zu einem neuen Verteilungskampf: Es geht um Hortplätze und Heimplätze, um gute Pflegekräfte und letztendlich bei vielen – auch ums Geld.

Familien, die diesen Weg nicht gehen, gelten gerade in Ballungszentren inzwischen oft als Exoten. ,,Wie, Eurer Vater wohnt bei Euch in der Wohnung?´´ Dabei kann dieses Miteinander mehrerer Generationen unter einem Dach oder in der Nachbarschaft den Verteilungskampf um Zeit und Geld durchaus entschärfen. Ein Innehalten unter Beantwortung der Frage, was benötigen wir wirklich an professioneller Arbeitsteilung in diesen Bereichen, kann auch helfen, die Generationen wieder einander näher zu bringen. In sogenannten Mehrgenerationenhäusern, teils vom Familienministerium gefördert, wird das Miteinander von Jung und Alt, familienübergreifend und teils in großen Gemeinschaften gelebt.

Wäre schön, wenn sich diese Idee auch in der Wohnbaupolitik in München besser wiederfände. Hier orientieren sich die Wohnkonzepte bisher zumeist an dem Prinzip der klassischen Zwei- bis Vier-Zimmerwohnung. Größere Einheiten sind Mangelware, Wohnkomplexe mit Gemeinschaftsräumen ebenso. Man kann froh sein, wenn das eigene Kellerabteil mehr als zwei Quadratmeter hat. Aber die klassischen Doppelhaushälften, in denen vielleicht noch für Omi, Opa oder das AuPair Platz wäre, sind für eine Familie kaum noch zu bezahlen, weder als Eigentum noch zur Miete. Kombinationen aus Mehrzimmer-Wohnungen zum Beispiel mit Verbindungstüren dazwischen, wie man sie in guten Hotels vorfindet, wäre hier schon ein kleiner Schritt, es auch Normalverdienern zu ermöglichen, ihr Modell der totalen Arbeitsteilung von einst ureigenen Familienaufgaben zu überdenken - und die verschiedenen Generationen besser einzubinden.

„Zunehmende Verrohung ist zu beobachten”

Die junge Generation: Maximilian Winkler, Diplom-Politologe und Unternehmensberater, 29 J.:

Parteien sind vermeintliche Interessensorganisationen, die ihr „Programm” und damit die politische Meinung aufgrund derer die Wähler – im Idealfall – ihr Kreuz machen, politisch durchsetzen sollten, im Ernstfall jedoch ihre intrinsischen Interessen verfolgen. So wird es ex- und implizit von den Volksmedien kommuniziert. Medien – das ist das wichtigste Stichwort in dem Zusammenhang des narzisstischen Exhibitionismus des 21. Jahrhunderts, vor dem auch der moderne Politiker nicht zurückschreckt. Jeder hat heutzutage auf virtuellen Plattformen die Möglichkeit, anonym und pseudonym mit einfachen Zeichen, in leicht verdaulicher Form und mit Hilfe eines Rechtschreibprogramms ein Statement abzugeben und damit der menschlichen Urangst der Vergänglichkeit – für einen kurzen Moment zumindest – zu entkommen.

So werden schnell Meinungen postuliert, um sie zu gegebenem Zeitpunkt zu revidieren. Damit ist der „Verlass” auf das Wort eines Politikers nur schwer nachvollziehbar; die Selbstreferentialität des politischen Systems in Deutschland wird begünstigt. Mit meiner naiven Vorstellung von politischer Meinung und politischer Arbeit hat das wenig zu tun. Charismatische Persönlichkeiten, die Wagnisse eingehen und mit Fakten, Meinungen und Visionen Mengen und nicht nur Wählerschaften bewegen können, fehlen meinem Empfinden nach in unserem aktuellen politischen „line-up“. Gleichzeitig aber, und das macht mir Angst, kann eine zunehmende Verrohung der (politischen) Gesellschaft beobachtet werden.

Der Aufstieg populistischer Parteien und Parteifiguren rund um Trump, LePen, Petry, Orban und Co. bestätigen die Ängstlichkeit der Menschen vor glokalen Veränderungen – das heißt Veränderungen im Kontext der Globalisierung mit lokalen Auswirkungen. Die Rhethorik ist hier stets dieselbe: Krisensituation benennen, Ängste schüren, Schuldige suchen, Untergänge und Endzeiten prophezeien und die Rettung als selbstlosen Akt anbieten. Wie man bei dem Brexit sehen konnte, verkaufen sich Angst, Panik und Parolen besser als sachlich vorgetragene Argumente und Zusammenhänge. Knappe Schlagworte und illustre Beispiele haben nun mal einen höheren Identifikationswert als dröge Parlamentsdebatten. Diese Tatsache, gepaart mit einer zunehmend entpolitisierten Jungwählerschaft, machen den Triumph der alten, weltfremden, verängstigten und überprotektionistischen Parallelgesellschaft möglich.

Neulich habe ich eine Empfehlung zum Umgang mit Populisten gehört, die mir entspricht: „Der Bildungsbürger ist es leid, gegen rechte Parolen sachlich zu argumentieren. Gegen Dummheit gibt es kein Argument. Was bleibt ist Sarkasmus und Ironie. Das versteht der Dumme wiederum nicht.“

„Uns jungen Leuten gehört die Zukunft”

Özlem Parlak, Studentin, 24 J.:

Wie unser ehemaliger Bundeskanzler Willy Brandt einst sagte: „Wir brauchen die Herausforderung der jungen Generation, sonst würden uns die Füße einschlafen.“ Ich bin ebenfalls davon überzeugt, dass das politische Interesse von großer Bedeutung ist und in den letzten Jahren auch seitens der jungen Menschen gestiegen ist. Herausforderungen, die uns unmittelbar betreffen, wie die Flüchtlingsfrage, der Terror, TTIP, AfD und viele andere, haben die Jugendlichen für das Ehrenamt und die politische Teilhabe motiviert.

Politiker beschweren sich, dass die Jugend politikverdrossen sei, doch bislang hat die Politik keine interessanten Themen für die jungen Leute geboten. Dies hat sich meiner Meinung nach in den letzten zwei Jahren verändert. Jugendliche driften leider auch in Randgruppen des politischen Spektrums ab, aber glücklicherweise gibt es auch viele, die sich in der Mitte wieder aktiv am Geschehen beteiligen.

Mir gefällt auch, dass immer mehr junge Politikerinnen und Politiker in die Parlamente gewählt werden und für frischen Wind sorgen. Uns jungen Leuten gehört die Zukunft, deshalb ist es von größter Dringlichkeit, aktiv am politischen Leben teilzuhaben.

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