Veröffentlicht am 11.05.2015 15:40

„Plötzlich war da ein Schädel”

Die Berichterstattung im Sendlinger Anzeiger über das Sollner Frauengrab hat Dieter Wolf (l.) und Heinrich Loy-Birzer wieder zusammengebracht. (Foto: tab)
Die Berichterstattung im Sendlinger Anzeiger über das Sollner Frauengrab hat Dieter Wolf (l.) und Heinrich Loy-Birzer wieder zusammengebracht. (Foto: tab)
Die Berichterstattung im Sendlinger Anzeiger über das Sollner Frauengrab hat Dieter Wolf (l.) und Heinrich Loy-Birzer wieder zusammengebracht. (Foto: tab)
Die Berichterstattung im Sendlinger Anzeiger über das Sollner Frauengrab hat Dieter Wolf (l.) und Heinrich Loy-Birzer wieder zusammengebracht. (Foto: tab)
Die Berichterstattung im Sendlinger Anzeiger über das Sollner Frauengrab hat Dieter Wolf (l.) und Heinrich Loy-Birzer wieder zusammengebracht. (Foto: tab)

Die Abenteuerlust und der Mangel an Spielplätzen treibt zwei Buben vor 43 Jahren auf eine Baustelle in Solln. Ausgestattet mit einer Bauklammer erkunden sie an einem Märztag eine Baugrube an der Kreuzung Gulbransson-/ Weltistraße. In der Gegend entsteht gerade die Parkstadt Solln. Das kühne Vorhaben der Freunde: Stufen in die Wand der Grube bauen. Sappralott, was für ein Spaß!

Abenteuer in den Baugruben

Man schreibt das Jahr 1972. In der Welt von Dieter (damals neun Jahre alt) und seinem zwei Jahre älteren Spezl Heinrich spielen Computer, Smartphones und „soziale” Netzwerke im Internet noch keine Rolle. Ihre Welt sind Baustellen. Ihre Welt, das ist der Münchner Süden, wo sie in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander aufwachsen. An jenem Tag steigen sie also hinab in diese Baugrube. Sie beginnen, die Wand zu bearbeiten, schließlich soll der Ausstieg bequem über Stufen erfolgen. Sie buddeln und graben und schlagen – bis sie plötzlich auf etwas Hartes stoßen. Muss wohl ein großer Stein sein. Denken sie ...

Wiedersehen nach Jahrzehnten

Erst Jahrzehnte später treffen sich die Freunde wieder, die sich als junge Männer aus den Augen verloren hatten. Die Berichterstattung über den Fund des Sollner Frauengrabs und der Grabbeigaben im Sendlinger Anzeiger hat Heinrich Loy-Birzer und Dieter Wolf nun wieder zusammengeführt. Dabei wohnen sie gar nicht so weit voneinander entfernt. Der eine in Neuried, der andere nach wie vor im Münchner Süden. An einem Spätnachmittag sind die beiden an genau jener Kreuzung verabredet, an der sie 1972 in der Baugrube das große Abenteuer suchten - und fanden. Dieter Wolf ist als erster da. „Das könnte er sein”, überlegt er, als ein Mann mit Bart auf ihn zukommt. „Heinrich?” fragt er vorsichtig. Ja, es ist der Spezl von damals. Ein Handschlag und Sekunden später stecken sie schon in den Erinnerungen. „Das muss ja bestimmt 34 Jahre her sein, dass wir uns zuletzt gesehen haben”, sagt Loy-Birzer.

Dann suchen sie nach der Stelle, an der sie 1972 ihren Fund machten und wo kurz danach eine Reihenhaussiedlung entstand. „Hier war es.” Dieter Wolf und Heinrich Loy-Birzer bleiben vor einer Reihe Häuser stehen und tauchen ein in die Vergangenheit, steigen nochmal hinab in die Grube und werden wieder zu den Burschen von damals.

„Wir haben nichts erzählt”

Zurück zum vermeintlichen Stein in der Grubenwand. „Da war etwas Hartes und es hatte die Farbe eines Steins”, erinnert sich Heinrich Loy-Birzer. Ziemlich schnell sei ihnen klar gewesen, dass es kein Stein ist. „Als ein Unterkiefer und Zähne rausfielen, haben wir's begriffen. Plötzlich war da ein Schädel.” Die Kinder buddeln noch ein bisschen weiter und stoßen auf kleine Knochen. Dann machen sie, was Buben in so einem Fall wohl machen müssen: Sie gehen nach Hause. Und schweigen. Männergeheimnis und so. „Wir haben nichts erzählt. Das war ja schließlich unser Fund”, sagt Dieter Wolf.

Vom Frauengrab ins Kinderzimmer

Am nächsten Tag kommen sie wieder. Die Stufen in der Wand sind längst vergessen. Sie graben weiter und fördern einen kleinen Schatz zutage: Armreifen, zwei Spangen, ein Haarring. Wahnsinn! Und weil das Zeug nicht in Hosentaschen passt, wird es kurzerhand in einen Schuhkarton gepackt. Wohl behütet finden die rund 4.000 Jahre alten Grabbeigaben den Weg ins Kinderzimmer der 1970er Jahre von Heinrich. An diesem Punkt verschwimmen die Erinnerungen der Freunde etwas. „Ich weiß nicht mehr, wer den Schuhkarton entdeckt hat. Wahrscheinlich war es mein Vater”, meint Loy-Birzer. „Er wollte wohl nachsehen, was der Bub da in der Schachtel hat.”

Statt Geld gab's nur ein Buch

Vater Loy-Birzer ist es jedenfalls, der erkennt, dass sich in dem Karton etwas befindet, das möglicherweise über den Wert gewöhnlicher Glasmurmeln oder Knallfrösche hinausgeht. Er meldet den Fund am 14. März 1972 dem Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege, einen Tag später werden die Stücke den Wissenschaftlern übergeben. Während sich die Forscher über den Fund freuen, reibt sich auch der kleine Dieter die Hände. Da muss ja jetzt wohl Geld fließen, denkt sich der Neunjährige. Und wartet mal ab. Abwarten müssen unterdessen auch die Bauarbeiter. Denn: Wegen des Fundes wird die Baustelle geschlossen, weitere Untersuchungen im Erdreich werden vorgenommen. „Die dürften sich wohl nicht so gefreut haben”, vermutet Heinrich Loy-Birzer.

Einige Wochen später schlägt die Hoffnung auf finanzielle Entlohnung bei Dieter in pure Ernüchterung um. Als Dankeschön für den Fund und dessen Weitergabe erhalten die Buben je ein Buch sowie eine Nachbildung der großen Nadel aus dem Frauengrab. „Ich war sowas von enttäuscht”, sagt Dieter Wolf und lacht. Gleichzeitig bekommen die Loy-Birzers im Mai 1972 ein Schreiben des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege. Darin werden die Ergebnisse der Wissenschaftler erläutert. Was die Kinder gefunden haben, ist ein Frauengrab aus der Frühbronzezeit. Die Tote wurde in der so genannten Hockerbestattung beigesetzt.

„Es war ein Abenteuerspielplatz”

Dieter Wolf hat die Enttäuschung längst überwunden. Gemeinsam mit Heinrich Loy-Birzer blättert er im Sollner Stadtviertelbuch, das Hermann und Ingrid Sand im Jahr 1999 herausgegeben haben. Unter dem Titel „Die Urmutter von Solln” hat Loy-Birzer für das Buch einst einen Beitrag verfasst. Gut ein Jahr nach dem Fund der beiden Freunde wurde in unmittelbarer Nähe noch das Grab eines Mannes, des „Urvaters von Solln”, entdeckt. Allerdings nicht von Dieter und Heinrich. Sie verbrachten die folgenden Jahre ihrer Kindheit trotzdem noch gerne auf Baustellen. „Wir haben aber nie speziell nach Schätzen gesucht”, sagt Dieter Wolf. „So eine Baustelle war ja für sich schon ein Abenteuerspielplatz.” Von dieser Abenteuerlust haben sie sich wohl einfach treiben lassen.

Über die Grabbbeigaben, darunter die Sollner Fibel”, hat der Sendlinger Anzeiger am 15. April berichtet. Die Archäologische Staatssammlung hat die von den Buben geretteten Stücke in ihrer Obhut. Wegen des Umzugs der Sammlung sind die Schmuckstücke aus der Bronzezeit aber wohl frühestens 2020 wieder der Öffentlichkeit zugänglich.

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