„So etwas wie Sie gibt es nicht wieder!”, erklärte der langjährige Verleger des Sendlinger Anzeigers, Kurt Kaiser, und schloss Edith Endraß fest in die Arme. Gemeinsam mit seinem Sohn und jetzigem Geschäftsführer Peter Kaiser und Vertriebsmitarbeiterin Christa Kreuzer hatte er die 82-jährige Zustellerin in ihrer Wohnung in der Waldfriedhofstraße besucht, um sie nach über 52 Jahren, in denen sie stets zuverlässig und pünktlich den Sendlinger Anzeiger in die Briefkästen gebracht hatte, zu verabschieden. Außer bei zwei Knieoperationen, die nötigen waren, hatte sie in den ganzen 52 Jahren nie gefehlt. Als ihre Kinder noch klein waren, haben sie der Mutter beim Austragen geholfen, später waren es die Enkeln, mit denen sie oft unterwegs war.
Edith Endraß hatte extra einen Sekt kaltgestellt, und so wurde nochmals angestoßen auf eine Zusammenarbeit, von der die rüstige Seniorin sagt: „Wenn man zurückblickt, kann man kaum glauben, dass so viele Jahre vergangen sind.” Als sie sich 1960 dazu entschloss, den Sendlinger Anzeiger auszutragen, war ihr Mann, ein Ingenieur bei der Allianz, erst sehr dagegen. Mit einem kleinen Trick überzeugte sie ihn damals davon, dass sie beim Sendlinger Anzeiger mit geringem Zeitaufwand gutes Geld verdienen konnte. Sie luden die Anzeiger in sein Auto, fuhren zu Siemens, wo Edith Endraß über 1400 Exemplare an der Pforte und in die Aufsteller verteilen musste. Mit dem Pförtner hatte sie abgemacht, dass er, sobald er sie hupen hörte, herauskommen und die Wochenblätter in Empfang nehmen würde. „Das ging aber schnell”, meinte danach ihr Mann, der nie erfahren hat, dass unter normalen Umständen der Pförtner natürlich nicht parat steht, sondern Edith Endraß die Anzeiger an die Pforte brachte und alle Aufsteller selbst befüllte.
Gut erinnern kann sie sich auch noch an eine Begebenheit an der Brudermühlbrücke, wo sich im Tonnenhaus eine Verteilstation für den Sendlinger Anzeiger befand. Als sie eines Tages dort ihre abgepackten Anzeiger holen wollte, saß ein Mann in dem Häuschen und machte Brotzeit. Die Situation war etwas befremdlich, doch sie grüßte ihn freundlich und unbefangen. Kaum war sie wieder auf der Straße, wurde sie von der Polizei aufgehalten und nach einem Mann gefragt, der wegen Einbruchs gesucht wurde. Edith Endraß erkannte an der Beschreibung sofort den Unbekannten im Tonnenhäuschen und gab den Hinweis an die Beamten weiter. Bevor diese jedoch ins Häuschen eindrangen, bat sie sich jedoch aus, sich etwas weiter entfernen zu dürfen. Am nächsten Tag sei die Geschichte dann in der Zeitung gestanden, erzählte Edith Endraß.
Neben ihren Stammgebieten in der Boschetsriederstraße/ Siemensallee und dem Waldfriedhofsviertel übernahm die fleißige Zustellerin auch immer wieder zahlreiche Vertretungen – von der Blumenau bis nach Pullach war sie unterwegs. Zu manchen der Menschen, an deren Türen sie klingelte, um den Sendlinger Anzeiger in die Briefkästen werfen zu können, und zu vielen der Ladeninhaber, in deren Geschäfte sie das Blatt auslegte, baute Edith Endraß herzliche Beziehungen auf. So häkelte sie einst für eine junge schwangere Türkin ein Babyjäckchen, ein Mützchen und Handschuhe. Ungefähr 25 Jahre später wurde sie plötzlich auf der Straße von einem jungen Mann umarmt, der ihr erzählte, er sei das Baby gewesen, für das das Jäckchen bestimmt war und nun trage es sein kleiner Sohn.
Ganz selbstverständlich war es für sie, dass sie bisweilen nicht nur den Sendlinger Anzeiger sondern manchen Leuten auch selbstgebackenen Kuchen oder Stollen brachte. Auch die ganze Belegschaft des Sendlinger Anzeigers bekam da natürlich immer etwas ab. Viel wichtiger aber war, dass sie sich für die Menschen, die sie ja oft seit vielen Jahren kannte, Zeit nahm und nimmt – Zeit für ein Gespräch oder Zeit, um etwas für einen Witwer zu kochen; Zeit, um einzukaufen zu gehen für jene, die selbst nicht mehr aus dem Haus können; Zeit um bei einer alten Dame regelmäßig nach dem Rechten zu sehen oder Zeit für einen Babysitterdienst bei einer jungen Familie. Eine Gegenleistung wollte sie dafür nie, aber so viel Herzlichkeit bleibt natürlich nicht unbelohnt. Oma, Muttl oder auch Mutter Theresa wird sie in Sendling genannt. Und wenn sie den Anzeiger austrägt – diese Ausgabe nun zum allerletzten Mal – wird sie schon von vielen Geschäftsleuten empfangen. Man schenkt ihr etwas zu trinken ein, gibt ihr eine kleine Stärkung mit auf den Weg, und vom Asiaten in der Gmunder Straße darf sie nicht gehen ohne etwas gegessen zu haben.
„Es war eine so schöne Tour”, sagte Edith Endraß mit wirklichem Bedauern in der Stimme. „Aber irgendwann muss ein Ende sein.” In der letzten Zeit hat sie gemeinsam mit ihrer Enkelin die Zeitung ausgetragen – und diese hat auch immer das Geld bekommen. Die Oma hat es sogar noch auf 200 Euro aufgestockt Jetzt steht die Enkelin vor ihren Abschlussprüfungen, muss viel lernen und kann nicht mehr mitgehen. Und so hat sich Edith Endraß schweren Herzens entschlossen, in den „Ruhestand” zu gehen. Zum Abschied hat sie schon viele Geschenke bekommen: Pralinen, Blumenstöcke, einen Schutzengel, fünf Pfund Zwetschgen... „Muttl, du darfst nicht gehen!” „Oma, das kannst du uns nicht antun”, hat sie zu hören bekommen – und es wurde ihr das Versprechen abgenommen, trotzdem ab und zu vorbei zu schauen.
Auch vom Sendlinger Anzeiger gab es zum Abschied Geschenke. Kurt Kaiser überreichte seiner ältesten Zustellerin einen großen Blumenstrauß, Peter Kaiser und Christa Kreuzer, die übrigens ebenfalls schon seit über 30 Jahren beim Sendlinger Anzeiger ist, übergaben eine Urkunde für 52 Jahre treue Mitarbeit, Eintrittskarten für die Artistik-Veranstaltung „Feuerwerk der Turnkunst” und einen Gutschein für ein Wellness-Hotel.
„Mir ist nie langweilig”, versicherte Edith Endraß ihren Gästen – und das wird auch so bleiben. Denn die vielen kleinen Hilfsdienste im Viertel, die wird sie natürlich nicht aufgeben.