Veröffentlicht am 27.08.2012 09:23

„Wörter sind für mich Räume”

Die Zeile „weiß schimmert giftig“ beziehen die Schüler auf das Heizkraftwerk. (Foto: 1d2)
Die Zeile „weiß schimmert giftig“ beziehen die Schüler auf das Heizkraftwerk. (Foto: 1d2)
Die Zeile „weiß schimmert giftig“ beziehen die Schüler auf das Heizkraftwerk. (Foto: 1d2)
Die Zeile „weiß schimmert giftig“ beziehen die Schüler auf das Heizkraftwerk. (Foto: 1d2)
Die Zeile „weiß schimmert giftig“ beziehen die Schüler auf das Heizkraftwerk. (Foto: 1d2)

Der Sendlinger Anzeiger druckte in seiner Ausgabe vom 1. Februar dieses Jahres das Gedicht der 2009 verstorbenen saarländischen Dichterin Felicitas Frischmuth ab, das auf dem schwarzen Obelisken, einem Werk ihres Ehemanns, des Bildhauers Leo Kornbrust, zu lesen ist. Der 1989 entstandene Obelisk befindet sich genau über der U-Bahnstation Brudermühlstraße. Der Deutschkurs 1d2 der 11. Jahrgangsstufe des Dante-Gymnasiums fand sich 2012 vor die Aufgabe gestellt, dieses Gedicht, das keinen Titel hat, genauer zu untersuchen und eventuell eine Interpretation zu wagen.

Der Wörterstrom fließt

Ein erstes Problem stellte bereits die Analyse der äußeren Form des Textes dar, da die im Sendlinger Anzeiger abgedruckte Fassung in ihrer Zeilenanzahl nicht der Fassung auf dem Obelisken entsprach. Also machte man sich daran, den Text eigenhändig vom Obelisken abzuschreiben. Notwendig wurde dies, da das Gedicht keinerlei Satzzeichen aufweist und somit graphisch keine Satzgrenzen erkennbar sind. Wer den Text liest, merkt sehr schnell, dass sich auch inhaltlich und grammatikalisch nicht ohne Weiteres eindeutige Satzstrukturen erschließen lassen und somit der Inhalt nur bedingt verständlich ist. Unter Umständen hätte also die ursprüngliche Anordnung der Wörter bei einer Herstellung von Sinneinheiten helfen können. Die Fassung auf dem Obelisken besteht aus 83 Versen, die jeweils ein bis maximal vier Wörter umfassen. Einige wenige Zeilen bestehen nur aus einem Wortteil, das dann ohne Trennungsstrich in der nächsten Zeile fortgeführt wird. Der äußere Eindruck des Gedichts ist demnach der eines recht unstrukturierten, fließenden Stroms von unverbundenen Wörtern.

Assoziation einer Großstadt

Der nächste Schritt, der unternommen wurde, bestand darin, dennoch einzelne Sätze zu identifizieren, die eine verständliche Aussage erkennen ließen, und diese zu deuten. Im Folgenden sollen sie vorgestellt werden, wobei zugegeben werden muss, dass nicht für alle Passagen zufriedenstellende Erklärungen gefunden werden konnten. Der Text beginnt mit den Worten „rücken näher streifen“, die Bewegung, eventuell Verengung und Berührung ausdrücken. Klarer wird die nächste Stelle, die man als vollständigen Satz lesen kann: „im Gedränge fassen die Leute nach dir“. Das angesprochene Du in diesem Satz steht wohl stellvertretend für einen beliebigen Passanten. Dem Leser drängt sich die Assoziation einer Großstadtsituation auf, in der die Straßen dicht mit Fußgängern bevölkert sind. Die sich anschließenden Adjektive „konträr aufgespießt gerade schwankend“ könnten sich noch auf die zuvor genannten Leute, eventuell auf ihre Körperhaltung bzw. ihre Art zu gehen, beziehen.

Bei der nächsten Textstelle „rot bebildert die Auslage sagt dir was Ahornmoos heißt“ drängte sich zum ersten Mal der Verdacht auf, dass die Dichterin in ihrem Text ganz konkret auf real existierende Merkmale der Umgebung im Brudermühlviertel und in Sendling anspielt. Dieser Satz lässt sich sehr präzise auf den Abschnitt der Brudermühlstraße zwischen Heizkraftwerk und der Kreuzung an der Implerstraße beziehen. Hier ist die Brudermühlstraße zu beiden Seiten von Ahornbäumen gesäumt, deren Stämme, zumindest jeweils an ihrer Nordseite, tatsächlich von Moos bewachsen sind. Gleichzeitig bestehen die Gehsteige nicht aus der in München üblichen Granitbepflasterung, sondern sind mit kleineren rötlichen Platten gepflastert. Dieses und andere Merkmale prüfte der Deutschkurs in einem Unterrichtsgang während einer Deutschstunde vor Ort nach.

Rätselhaft bleibt hingegen nach wie vor die Formulierung „der gelbgrüne reusige Trichter auf dem Asphalt“. Dieser erste Teil des Gedichts umfasst 18 Zeilen auf dem Obelisken und vermittelt visuelle Eindrücke, die vor allem Fußgänger wahrnehmen.

Der Blickwinkel ändert sich

Es folgt ein zweiter Teil mit 33 Zeilen, in dem zwar immer noch – wie übrigens im gesamten Text – die visuellen Eindrücke vorherrschen, jetzt allerdings eher aus dem Blickwinkel eines Autofahrers. Er beginnt mit einem Satz: „wir haben uns nicht geteilt [.] hier ist die Erklärung [:] für eine halbe Stunde waren wir unsichtbar“. Räumlich lässt sich auch diese Stelle mit der näheren Umgebung des Heizkraftwerks verbinden: Die Fahrspuren des Mittleren Ringes teilen sich am hiesigen Ende der Brudermühlbrücke. Die angesprochene Unsichtbarkeit könnte auf eine Fahrt durch den sich anschließenden Tunnel deuten. Unklar bleibt an dieser Stelle zwar noch die Zeitangabe „für eine halbe Stunde“, doch diese ließe sich mit einem Verkehrsstau assoziieren, was die kurz darauf folgende Aussage „Höchstgeschwindigkeit ist der Stau“ belegen könnte.

Vor dieser Stelle stehen allerdings noch die Worte „printanier / gleichbleibend / Ohrring / das Verfeinerte“. Das Wort „printanier“ stammt aus dem Französischen und bedeutet „frühlingshaft“. „Ohrring“ ließe sich die große Eisenskulptur an der Kreuzung Brudermühlstraße / Schäftlarnstraße beziehen, die tatsächlich Ähnlichkeit mit einem auf dem Kopf stehenden Ohrring aufweist, wie Schülerinnen bei dem Unterrichtsgang bemerkten. Es folgt der Satz „das Motiv verschwindet“, was konkret darauf deuten könnte, dass die Skulptur aus dem Blickwinkel des sich fortbewegenden Betrachters verschwindet, im übertragenen Sinn könnte dies aber auch das Verlustiggehen eines Beweggrundes bedeuten.

Bezüge zum Viertel

Die folgenden Zeilen „weiß schimmert giftig“, „vor / da klemmt was“, „in die Farnschlucht hat sich eine Ente verirrt“, „die Isar blinzelt glibbert rollt“, „die Landschaft fliegt vorbei ja fliegt“ und „die Ausbaustrecke endet hier“ lassen sich ebenfalls mit der oben genannten Kreuzung in Verbindung bringen: „weiß schimmert giftig“ könnte sich auf das Heizkraftwerk beziehen, „in die Farnschlucht hat sich eine Ente verirrt“ lässt sich recht gut mit den dicht bewachsenen Ufern des Isarkanals vereinbaren, dann wird die Isar selbst genannt und beschrieben. Das Vorbeifliegen der Landschaft stellt einen Gegensatz zu dem weiter oben genannten „Stau“ dar, was bedeuten könnte, dass der Verkehr nun wieder fließt. Das Ende der „Ausbaustrecke“ ließe sich mit der hinter der Schäftlarnstraße beginnenden Brudermühlstraße identifizieren.

Der dritte Teil des Textes (28 Zeilen), der nun die eindeutige Perspektive und Thematik des Autoverkehrs etwas verlässt, entfernt sich zugleich auch von der Gegend zwischen Isar, Schäftlarn- und Brudermühlstraße und wendet sich dem westlicheren Teil Sendlings zu. Hier finden sich mehr satzähnliche Strukturen: „die Wege sind kurz gestrichen“. Verständlicher ist die folgende Aussage: „grün kommt vor / die Stadtbücherei liegt auf einer verkehrsumtosten Insel“, was sich klar auf die Sendlinger Stadtbücherei beziehen lässt. Eventuell könnte sich mit der „verkehrsumtosten Insel“ auch der Harras identifizieren lassen.

Die Passage „Eingang / Eingänge / Hortensien schmücken den Vorgarten / ich sage keinem wie er darin wandern soll / der brave Gang / die Erläuterung / die Abweichung“ könnte eine Anspielung auf den Westpark darstellen mit seinen zahlreichen Eingängen und Wegen. Es folgen zwei Sätze „rot ist der Anger / hier versammeln sich die Blitze“, die nun wieder eher Bezug zum Straßenverkehr aufweisen. Mit „Anger“ könnte die Stemmerwiese gemeint sein, der Verweis auf „rot“ und „Blitze“ könnte auf die Ampel und die dort installierte Blitzanlage an der nahe gelegenen Sendlinger Kirche an der Ecke Plinganserstraße / Lindwurmstraße hindeuten.

Die Vorwärtsbewegung endet nicht

Die letzten fünf Zeilen sind inhaltlich isoliert von dem Vorherigen. Einerseits macht dies der nun folgende Satz auf Französisch „je corrigerai mes épreuves“ (dt. Übersetzung: „Ich werde meine Prüfungen korrigieren“, wobei das französische Wort „épreuve“ aber eher „Prüfung“ im Sinn von „Herausforderung“ und nicht im Sinn von „Examen“ bedeutet) deutlich, andererseits tritt hier nun das lyrische Ich stark in den Vordergrund: „ich lebe also weiter“. Beide Sätze beginnen mit dem Wort „je“ bzw. „ich“. Das Ich sagt einerseits aus, in Zukunft Korrekturen oder Verbesserungen vorzunehmen, und andererseits stellt es sein eigenes Weiterleben, mit dem konsekutiven „also“ betont, fest. Dies lässt sich wohl auf die Dichterin selbst beziehen, deren Fortleben sich ja für jeden sichtbar durch ihr auf den Obelisken geschriebenes Gedicht manifestiert.

Eine Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Gedicht von Felicitas Frischmuth inhaltlich stark mit dem räumlichen Umfeld des Ortes, an dem es öffentlich zu lesen ist, verbunden ist, dies geschieht vor allem durch die Motive der Natur, z.B. Bäume, Gärten, Fluss, und das Motiv der Bewegung durch den Raum, sei es aus der Perspektive des Fußgängers, sei es aus der des Autofahrers. Dabei werden Gesichtspunkte des alltäglichen städtischen Straßenverkehrs genannt, wie Ampeln, Blitzer, Stau. Das Neben-, Gegen- und Miteinander von Natur und großstädtischem Straßenverkehr prägen sowohl das Gedicht Frischmuths als auch den Stadtteil Sendling. Darüber hinaus kann und muss man das Gedicht aber auch auf einer abstrakteren, assoziativen Ebene verstehen: Es geht um die lineare Vorwärtsbewegung durch Raum und Zeit, die Vorwärtsbewegung im eigenen Leben und die Möglichkeit eines Fort- oder Weiterlebens, wenn diese Vorwärtsbewegung im eigenen Leben endet. Sprachlich arbeitet Frischmuth überwiegend mit Assoziationen, Anspielungen und Mehrdeutigkeiten, wie man gesehen hat, mit Metaphern und Farben.

Felicitas Frischmuth

Felicitas Frischmuth wurde 1930 in Berlin geboren, studierte Musik, klassische Philologie und Philosophie in Frankfurt am Main und lebte lange Zeit in Saarbrücken. Sie war mit der deutsch-französischen Grenzregion eng verbunden und in ihren Texten finden sich häufig französische, aber auch italienische oder lateinische Wörter und Sätze. Sie und ihr Mann Leo Kornbrust schufen eine ganze Reihe von sogenannten „Schrift-Skulpturen“, unter anderem gibt es in München zwei weitere Skulpturen Kornbrusts mit Texten Frischmuths, einen Obelisken in der Berliner Straße in Schwabing und eine Skulptur vor der „Vereinigten Versicherungsgruppe München“ in Neuperlach.

Rätsel bleiben

Der Deutsch-Kurs des Dante-Gymnasiums konnte nicht alle Textstellen auf dem Sendlinger Obelisken enträtseln, aber vielleicht dient die vorliegende Untersuchung anderen als Anregung, hier weiterzumachen und zum Beispiel den „gelbgrüne[n] reusige[n] Trichter auf dem Asphalt“ zu finden und die Assoziationen des Gedichts im Stadtbild Sendlings konkret werden zu lassen im Sinne Felicitas Frischmuths, die sagte: „Wörter sind für mich Räume.“

Danke, Dante!

Der Sendlinger Anzeiger bedankt sich beim Deutschkurs 1d2 des Dante-Gymnasiums herzlich für seine einfallsreiche und engagierte Mitarbeit. Danke, Dante!

Ein Nachtrag

Der Deutsch-Kurs 1d2 wollte mit seiner Interpretation auch eine Anregung geben und zum Beispiel den „gelbgrüne[n] reusige[n] Trichter auf dem Asphalt“ zu finden. Natürlich hat unsere Redaktion Ausschau im Viertel gehalten: Der „Trichter“ könnte ein Bild für die sich in der Stadt verengende Isar sein. Der – grüne – Flaucher mit dem – gelben – Isarkraftwerk ist eine solche Verengung. Im Kraftwerk wird der frei fließende Fluss in Werkskanäle und Turbinenrohre „eingetrichtert“. Das Adjektiv „reusig“ weist auf eine Falle für Fische hin, also auf menschliche Eingriffe in die Natur. Unter solchen Eingriffen litt die Isar, ehe sie in den letzten Jahren aufwändig renaturiert wurde. Als Felicitas Frischmuth ihr Gedicht schrieb, war die innerstädtische Isar noch in ihrem „Betonkorsett“ eingezwängt. Der – grüne – Gebirgsfluss wurde wie ein Kanal entlang der Wohnblocks der Isarvorstadt (viele gelbe Fassaden) vorbeigeleitet. Die Verortung des Trichters „im Asphalt“ kann als Hinweis auf die die Isar querenden Brücken gelesen werden, „Asphalt“ ist aber auch eine Metapher für die auf den Straßenverkehr zugeschnittene Innenstadt.

„Ohne ihren Text ist die Säule leer”

Der Sendlinger Anzeiger hat mit Leo Kornbrust über die Interpretation der Dante-Gymnasiasten gesprochen. Der Bildhauer feiert am 31. August seinen 83. Geburtstag und lebt in seinem Geburtsort im Saarland. Nachdem er die Arbeit der Schüler gelesen hatte, schrieb er:

„Es hat mich natürlich gefreut, dass die Deutschschüler des Sendlinger Dante-Gymnasiums dem Text von Felicitas Frischmuth auf meiner Schriftsäule soviel Aufmerksamkeit gewidmet haben. Zu der Interpretation der Schüler kann ich leider nichts sagen, weil ich im Arbeiten mit meiner Frau ‚Fee’ so verwoben war, dass ich nicht denken konnte. Ich habe nur gesagt, ohne ihren Text ist die Säule leer. Das war bei allen Arbeiten, wo Text von ihr drin ist, auch so, sonst hätte ich diese Arbeiten gar nicht gemacht.

Die Schriftsäule haben wir 1989 gemacht im Fichtelgebirge in Reinersreuth bei dem Steinwerk Henschel. Weil sie so groß ist, konnte ich nur im Freien arbeiten, und um die Schrift hineinzubringen, durfte es nicht regnen und warm musste es sein – und das war zu diesem Moment so.

1985 ist die achteckige Schriftsäule in der Berliner Straße entstanden. 1996 ist das Mahnmal für die Opfer des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus entstanden. Auch hier hat meine Frau mitgewirkt bei der Recherche zu den Texten darauf.

Einmal hat sie geschrieben ‚wir genießen das Interesse für einander’. So war das, deshalb greife ich nicht bei Literatur oder Poesie ein.“

north