Stellen Sie sich vor, Sie sind im Urlaub, sitzen in einem Restaurant am Strand, wollen etwas zu Essen bestellen, sprechen aber die Landessprache nicht. Was tun? Mit Händen und Füßen reden? Einfacher wird es, wenn die unterschiedlichen Speisen anhand von Bildern dargestellt ist, denn dann reicht es, einfach darauf zu deuten. Doch das sind Ausnahmesituation, die man im Urlaub erlebt, aber selten im Alltag. Wie aber muss es sein, wenn man sich tagtäglich nur schwer oder gar nicht mitteilen kann? Wenn Kommunikation als ein wesentliches menschliches Bedürfnis zum Problem wird. Viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit schweren Behinderungen können nicht sprechen oder sich präzise artikulieren. Zusätzlich können viele wegen einer eingeschränkten Motorik kaum oder nur undeutliche non-verbale Signale senden. Welche Förderung und welche Hilfsmittel ermöglichen es ihnen dennoch, mit ihrer Umwelt erfolgreich zu kommunizieren?
Diese Frage stand im Mittelpunkt der 6. interdisziplinären Tagung der Stiftung Leben pur. Weiter beschäftigte die 500 Teilnehmer, wie jeder von ihnen durch sein eigenes Verhalten das Gespräch mit den Betroffenen verbessern kann. Das Programm umfasste zehn Vorträge und elf Workshops: Renommierte Experten informierten über neueste Erkenntnisse, Betreuer präsentierten innovative Modelle aus der Praxis und Betroffene referierten. Begleitet wurde die Tagung von einem Marktplatz, auf dem Unternehmen Hilfsmittel präsentierten und spezialisierte Beratungsstellen ihre Arbeit.
Besondere Aufmerksamkeit ernteten die „Referenten in eigener Sache“. „Im Rahmen der Jahrestagung ist es uns ganz wichtig, Betroffene und Angehörige zu Wort kommen zu lassen“, betont Christine Kopp, die Vorsitzende der Stiftung Leben pur. Höhepunkt war dabei der Vortrag von Jens Ehler. Der 22-jährige Sinsheimer ist schwer mehrfach körperbehindert und kann nicht über Lautsprache kommunizieren. Lange konnte er sich nur mit seinem Körper mitteilen und wurde dabei oft missverstanden oder gar aufgefordert nicht so herumzuzappeln. Er musste darauf warten, dass ihm Fragen gestellt wurden, die er mit einem Kopfnicken oder einem Kopfschütteln beantworten konnte. Dieses Ausgeliefertsein und die damit verbundenen Frustrationen hat er mittlerweile überwunden; heute kommuniziert er wie Stephen Hawking mit einem Sprachcomputer. „Ich höre nicht gerne, wenn jemand sagt, dass ich nicht sprechen kann. Das ist wie ein Schlag ins Gesicht. Ich kann sprechen, aber auf andere Weise.“
„Es ist nicht so, dass Schwerstbehinderte nicht reden können. Vielmehr ist es so, dass wir sie einfach nicht verstehen“, weiß Kopp. „Und das müssen die Menschen lernen, verstehen und sich öffnen. Ähnlich wie beim Lernen einer Fremdsprache.“ Grundsätzlich müssen nach Ansicht der Stiftungsvorsitzenden noch unglaublich viele Barrieren abgebaut werden. „Damit meine ich konkrete Barrieren, wie Stufen usw. Aber auch die Barrieren in den Köpfen der Leute.“
Wie sehr Eltern Gefahr laufen, selber „Hilfsmittel“ zu werden, beschrieb Andrea Schaal. Sie ist Lehrerin und Mutter eines körperbehinderten und nicht-sprechenden Sohnes. „Wir vermittelten ihm die Botschaft: Du kannst gar nichts mehr, aber wir machen das für Dich!“ Nur mühsam gelang es ihr, den „Viel-hilft-viel-Aktionismus“ abzulegen und ihren Sohn dennoch bestmöglich zu fördern. Heute steht er kurz vor dem Abitur und kommuniziert mit Hilfe von Zeigetafeln und seinem Sprachcomputer. Derzeit kämpft Schaal mit einem Problem, dass zeigt, wie sehr die Normalität in die Familie Einzug gehalten hat: Helfer und Freunde verstehen ihren Sohn zum Teil inzwischen besser als sie es tut.
Mut machte unter anderem ein Projekt aus München, das beweist, wie wichtig es ist, neue Wege zu beschreiten, Wagnisse einzugehen und den Kindern und „den Jugendlichen auch etwas zuzutrauen“, so Brigitte Schefold, Sonderschulrektorin des Förderzentrums Helfende Hände in München. „Connecting Friends“ heißt das Vernetzungsprojekt, das sie gemeinsam mit Konrad Schütte von Nokia Siemens-Networks präsentierte. Mit Unterstützung von Mitarbeiter aus Wirtschaftsunternehmen und ihren Betreuern eroberten die Jugendlichen des Förderzentrums neue Kommunikationswege via Internet; dank Chat-Software und Webcam enden Freundschaften nicht mehr mit dem gemeinsamen Schulbesuch sondern leben trotz räumlichen Entfernungen weiter. „Spannend dabei ist nicht nur, wie die Jugendlichen mit diesem Medium umgehen, sondern auch wie wir als Kommunikations-Unterstützer agieren. Die Jugendlichen sind selbstbewusster geworden und wehren sich jetzt, wenn wir zuviel eingreifen, ihnen zuviel abnehmen wollen.“
Sich nicht mitteilen und sich nicht austauschen können, hat weitreichende Konsequenzen für alle Lebensbereiche und für die gesamte Lebensqualität. Oft sind sogenannte Verhaltensauffälligkeiten nur das Resultat missglückter Kommunikationsversuche oder mangelnder Kommunikationsfähigkeiten. Menschen mit schweren Behinderungen müssen daher von klein auf optimal gefördert werden. Genauso wichtig ist aber auch, dass nicht behinderte Menschen aufmerksam und geduldig zuhören und die „Fremdsprachen“ der Menschen mit schweren Behinderungen verstehen lernen. Dies gilt sowohl für die Angehörigen, die Betreuer und Experten aber für alle Menschen, die ihnen in ihrem Alltag und in der Öffentlichkeit begegnen.
Auch wenn es um universelle und meist auch kulturell unabhängige Gesichtsausdrücke gibt, ist die Körpersprache eine sehr individuelle. Gerade Menschen mit senso-motorischen Beeinträchtigungen wählen zwangsläufig unübliche Wege; daher werden viele ihrer Bewegungen selbst von den Angehörigen und Betreuern lange nicht als Mitteilung erkannt oder fehl interpretiert. Dieses Nicht-Verstanden-Werden verursacht bei den Betroffenen oft schwere Frustration und einen großen Leidensdruck.
Besonderheiten der Kommunikation sind auch bei Kinder mit einer Sehschädigung zu beachten. Vieles, was auf die Umwelt zunächst einen passiven Eindruck macht, ist Ausdruck großer Aufmerksamkeit. Viele Sehbehinderte wenden im Gespräch den Kopf ab, damit sie „ganz Ohr sind“, erklärte Sonderschullehrerin Uta Herzog. Ein weiteres Beispiel: Da die visuelle Kontrolle entfällt, greifen die Kinder häufig auf Rufen und Schreien zurück, um sich ihrer Umgebung mitzuteilen. Es gibt ihnen Sicherheit und schafft Vertrauen, wenn ihr Gegenüber alle Handlungen verbalisiert und Gegenstände benennt, „auch wenn man als Sehender oft das Gefühl hat, zuviel zu schwatzen“. Dieses Beschreiben ist zudem wichtig für die Begriffsbildung. Weiter brauchen die Kinder taktile und akustische Reize, „die Außenwelt muss im wahrsten Sinne des Wortes in ihren sogenannten Armtast-Raum gebracht werden“.
Prof. Dr. Jens Boenisch von der Universität Köln, Leiter des Forschungs- und Beratungszentrums für Unterstützte Kommunikation, berichte auf der Tagung über seine Forschungsarbeit. Sie zeigt, dass viele Kinder bei intensiver Förderung bereits nach einem Jahr deutliche Fortschritte machen, in Deutschland aber nur eines von zehn Kindern ausreichend gefördert wird. Boenisch präsentierte auch Ausschnitte seiner wegweisenden Arbeit zu Kern- und Randvokabular und die darauf basierenden neuen Zeigetafeln, für die er gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Stefanie Sachse mit dem Innovationspreis Leben pur 2009 ausgezeichnet wurde. „Dr. Boenisch hat herausgefunden, dass behindert und nicht behinderte Kinder fast die gleiche Sprachentwicklung haben“, erklärt Gerhard Grunick, wissenschaftliche Mitarbeiter der Stiftung. Sogenannte „kleine Wörter“ wie Pronomen (z.B. ich, du, wir), Konjunktion (z.B. und, oder, weil), Adverbien (z.B. hier, nachher), Präpositionen (z.B. bei, hinter, neben) oder Hilfsverben (z.B. haben, werden, sein) beherrschen den Großteil unserer gesprochenen Sprache. Boenisch und Sachse beschreiben in ihrer Untersuchung, welche Bedeutung dieses Kernvokabular in der Kommunikation von Kindern mit unterschiedlichen Behinderungen hat und leiten daraus pädagogisch-therapeutische Konsequenzen ab für die Sprachförderung von Menschen ohne Lautsprache oder Menschen mit schwersten Behinderungen. Weiter entwickelten sie auf dieser Basis neue Förderstrategien und Kommunikationstafeln.
Die Stiftung Leben pur ist eine bundesweite Plattform für die Belange von Menschen mit schwersten Behinderungen. Unter ihrem Dach arbeitet das Wissenschafts- und Kompetenzzentrum. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen Alltagsbelange wie Pflege, Ernährung, Schlaf und Kommunikation. Durch Vernetzung, Wissenstransfer und Austausch sollen neue und bessere Antworten und Therapien für diese Herausforderungen gefunden und eine Lücke im Wissenstransfer zwischen Wissenschaft, Praxis und den Betroffenen geschlossen werden.
Ein wichtiger Baustein im Leistungsspektrum der Stiftung Leben pur ist die Online-Beratung für Angehörige und Betreuer von Menschen mit schweren Behinderungen. Die Ratsuchenden werden von renommierten Experten kostenlos und vertraulich via E-Mail beraten. „Wir wollen Eltern und Betreuern von Menschen mit schweren Behinderungen aktuelle wissenschaftliche und praktische Erkenntnisse zugänglich machen und dazu beitragen, dass sie vom Erfahrungswissen anderer profitieren können“, erklärt Gerhard Grunick, wissenschaftlicher Leiter der Stiftung, der für das Projekt verantwortlich ist. Weitere Informationen gibt es im Internet: www.stiftung-leben-pur.de .