Briefwähler, Nichtwähler und Kurzentschlossene

Wie wählt München?

»Sie haben 2 Stimmen« bei der Bundestagswahl am 24. September. Selten war jede einzelne Stimme so wichtig wie bei dieser Wahl.	Foto: gemeinfrei

»Sie haben 2 Stimmen« bei der Bundestagswahl am 24. September. Selten war jede einzelne Stimme so wichtig wie bei dieser Wahl. Foto: gemeinfrei

München · 923.686 Münchner sind am Sonntag, 24. September, zur Stimmabgabe bei der Bundestagswahl aufgerufen. Diese Zahl nannte Kreisverwaltungsreferent Dr. Thomas Böhle bei einer Pressekonferenz am Dienstag.

Von diesen 923.686 hat bereits ein großer Teil seine Stimme per Briefwahl mehrere Tage vor dem Urnengang abgegeben. Dass rund 250.000 Münchner ihre Stimme nicht abgeben, ist auch bei dieser Wahl zu erwarten oder, aus Sicht der Politiker, zu befürchten.

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Bei der Bundestagswahl vor vier Jahren lag die Wahlbeteiligung in der Stadt bei 71,2 Prozent. Im Verhältnis zu anderen Staaten, die stolz auf ihre Demokratie sind, wie zum Beispiel die USA (Präsidentschaftswahl 2016: 58,9 Prozent) oder die Schweiz (Nazionalratswahl 2015: 48,4 Prozent) ist das ein hoher Wert. Für bundesdeutsche Verhältnisse dagegen ist das beklagenswert wenig, der zweitniedrigste Wert überhaupt – 2009 waren es 70,8 Prozent. Seit 15 Jahren geht die Beteiligung in der heutigen 1,5-Millionen-Stadt kontinuierlich und vergleichsweise steil zurück.

Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einer davon ist die Annahme, eine Stimme bewirke nichts. Das kann sich als folgenschwerer Irrtum herausstellen, ganz besonders mit Blick auf die möglichen 250.000 Nichtwähler, die 250.000 Stimmen entsprechen – für die Parteien ein riesiges Potenzial und außerdem wichtig zur Ermittlung des Bürgerwillens, nicht nur des Wählerwillens.

Ein anderer Grund ist da viel gravierender. So hat der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Armin Schäfer herausgefunden, dass die Wahlbeteiligung im Verlauf der vergangenen drei Jahrzehnte bei Menschen mit einem geringeren Einkommen überproportional gesunken ist. Gleiches gilt für den Bildungsgrad, dabei sollte klar sein, dass Demokratie nicht allein die Demokratie der Besserverdienenden oder des Bildungsbürgertums ist und das auch nicht sein soll.

Tatsächlich heißt es nicht zu unrecht: Wer die Wahl hat, hat die Qual. Oberflächlich scheinen die immerhin 42 antretenden Parteien, vor allem die größeren, in ihren Programmen kaum Unterschiede aufzuweisen. Darauf lohnt sich ein genauerer Blick – ohne dass man 42 Parteiprogramme durcharbeiten muss. Möglich macht es der Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung. Zwar kann man seine Haltung nicht mit Kleinparteien wie die Magdeburger Gartenpartei, Die Violetten oder die Mieterpartei vergleichen – die übrigens alle drei antreten, aber man findet mehr oder weniger große Übereinstimmungen, die zumindest erlauben, sich guten Gewissens für eine Partei zu entscheiden.

Wenn da nicht die Unzufriedenheit mit dem Wahlkampf wäre, mit den Parteien, mit der Politik überhaupt. »Wer nicht wählt, ist mit der Regierung, den Parteien insgesamt sowie mit der Funktionsweise der Demokratie eher unzufrieden und erhofft von einem Regierungswechsel wenig«, hat Dr. Armin Schäfer vor knapp zwei Jahren in der FAZ geschrieben. Woraus sich die Frage ergibt, was sich der Wähler vom Verzicht seiner Stimmabgabe erhofft. Das kann nur Protest sein, die Ablehnung aller Parteien und Kandidaten mangels subjektiv geeigneten Alternativen. Nur dass Demokratie ohne Bürgerbeteiligung nicht funktioniert.

Winston Churchill hat einst gesagt: »Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.« Unzufriedenheit darf also sein, solange sie nicht flächendeckend in Wahlabstinenz mündet.

Neben den Nichtwählern ist der Anteil der Briefwähler bei der Bundestagswahl 2017 so groß wie nie. In München geht die Tendenz über die 35-Prozent-Marke, also mehr als 320.000 Wähler – von flächendeckender Wahlabstinenz also keine Spur. Weil die Briefwähler ihre beiden Stimmen in den meisten Fällen bereits mehrere Tage vor der eigentlichen Wahl abgegeben haben, war für sie der Wahlkampf auch schon vorzeitig beendet. Bleiben noch die übrigen Stammwähler und die Unentschlossenen. Auch von Letzteren gibt es in diesem Jahr so viele wie nie zuvor.

Um deren Stimmen kämpfen die Parteien bis zum letzten Tag vor der Wahl. Sie sind es, die die Prognosen immer unsicherer machen. So sehen zwar aktuell alle Prognosen die CDU/CSU deutlich als stärkste Fraktion vor der SPD im nächsten Bundestag, während die kleineren Fraktionen von Die Linke, den Grünen, der FDP und der AfD allesamt zwischen acht und zwölf Prozent aufweisen. Zwar nennen die Prognosen auch konkrete Zahlen, aber dies in einer bemerkenswert großen Spannweite. Gerade für diese Parteien sind die Unentschlossenen eine wichtige Zielgruppe, denn sie entscheiden über die »Reihenfolge des Zieleinlaufs« und damit auch über mögliche Koalitionen. Selten hat der einzelne Wähler so viel Einfluss mit seiner Stimmabgabe gehabt. Diese Möglichkeit verfallen zu lassen, ist wahrscheinlich die schlechteste aller Alternativen. Von Carsten Clever-Rott

Artikel vom 22.09.2017
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