IMMA e.V. bietet Schutz für Mädchen und junge Frauen

München - Flucht aus der Familie

„Bei IMMA habe ich zum ersten Mal gelernt, dass es auch ein ‚Ich‘ gibt“, sagt Sarah, die nicht erkannt werden möchte und unter einem Pseudonym auftritt. Foto: sm

„Bei IMMA habe ich zum ersten Mal gelernt, dass es auch ein ‚Ich‘ gibt“, sagt Sarah, die nicht erkannt werden möchte und unter einem Pseudonym auftritt. Foto: sm

Sarah wollte nicht mehr leben. Zu viel musste sie zu Hause ertragen, zu groß waren die Schmerzen. Nicht nur ihr Vater, auch ihr älterer Bruder übten Gewalt auf sie aus, als sie noch ein junges Mädchen war. Inzwischen ist Sarah 31, beruflich erfolgreich und glücklich. Mit ihrer Vergangenheit habe sie abgeschlossen, sagt sie, während sie mit ihrem breiten Holzarmreif spielt.

Die langen, schwarzgelockten Haare streicht sie immer wieder aus dem Gesicht. Ihren richtigen Namen sagt sie nicht und auf Fotos möchte sie nicht erkannt werden. Zu groß ist die Angst, von der Vergangenheit eingeholt zu werden.

Es war kein einfacher Weg, den Sarah bestritt. Zum ersten Mal ist sie mit elf Jahren abgehauen, bei einer Freundin untergekommen. Immer wieder kehrte sie nach Hause zurück, hoffte auf Besserung. „Doch es wurde nicht besser, sondern immer schlimmer“, erklärt Sarah. Mit 18 hielt sie es nicht mehr aus. „Alles war schwarz und ich dachte, es gibt keine Lösung mehr“. Doch die gab es. Sarahs Rettung vor 13 Jahren war IMMA e.V., eine Zufluchtstelle für Münchner Mädchen, die nun ihr 20-jähriges Bestehen feiert. Seit 1988 haben über 1.100 junge Frauen aus verschiedenen Notsituationen heraus bei IMMA Schutz gefunden. „Zu uns kommen Mädchen, weil sie von ihren Familien vernachlässigt, misshandelt, sexuell missbraucht werden. Erst wenn die Verzweiflung zu groß ist, flüchten sie aus der unerträglichen Situation zu Hause – nicht selten mit schlechtem Gewissen und ambivalenten Gefühlen“, berichtet Johanna Pförtner, die Leiterin der Zufluchtstelle.

Der Leidensdruck ist oft immens. Viele denken, Gewalt in der Familie sei Privatsache, sagt die Zürcher Gewaltforscherin Dr. Corinna Seith. Kinder haben Angst, ihrer Familie Schaden zuzufügen.

Doch es werden immer mehr, die Schutz außerhalb der Familie suchen. „So lautet das traurige Resümee nach 20 Jahren Arbeit. Gewalt in den Familien gibt es leider nach wie vor“, bestätigt IMMA-Vorstand Andrea Mager-Tschira.

Allein dieses Jahr haben sich bereits 383 Mädchen bei IMMA gemeldet, 57 von ihnen wurden in einer Wohnung an einem anonymen Ort in München untergebracht. Der erste Schritt ist immer ein Anruf, das Telefon (18 36 09) ist rund um die Uhr besetzt. „Trotzdem haben wir nur begrenzt Platz“, erklärt Pförtner. In Absprache mit anderen Einrichtungen oder dem Jugendamt werde aber immer eine Lösung gefunden.

Auch Sarah fand Zuflucht bei IMMA, die Betreuerinnen nahmen ihre Probleme von Beginn an ernst. „Ich habe zum ersten Mal gelernt, dass es auch ein ‚Ich‘ gibt“, erzählt die 31-Jährige heute. Kerzengerade sitzt sie auf ihrem Stuhl, das enge Kleid betont ihre schlanke Figur. Die Beine mit den hohen Stiefeln hat sie locker überschlagen. Sie erzählt weiter: „Bei IMMA fühlte ich mich geborgen, die Betreuerinnen sprachen mir Mut zu und gaben mir Selbstvertrauen.“ Sarah besuchte wieder regelmäßig die Realschule, setzte sich Ziele.

Wenn die Mädchen zu IMMA kommen, sind sie meist sehr verängstigt. „Wir versuchen zuerst, sie zu beruhigen, sie wieder lebensfähig zu machen. Wenn sie mit jemanden reden möchte, sind wir für sie da“, erklärt Pförtner. Ein interkulturelles Team aus sechs Sozialpädagoginnen und einer Psychologin umsorgt die 13- bis 20-jährigen Mädchen. „Man darf sich aber jetzt nicht vorstellen, dass wir nur psychologische Gespräche geführt haben“, erklärt Sarah. „Wir hatten auch Spaß zusammen. Spiele- und Fernsehabende, so etwas kannten viele aus ihrer Familie gar nicht.“

Im Durchschnitt bleiben die jungen Frauen 45 Tage in der Einrichtung. In dieser Zeit wird geklärt, wie es weitergeht. „Rund die Hälfte der Mädchen zieht einen rigorosen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben“, sagt Pförtner. „Die andere Hälfte begleiten wir bei der Rückkehr in die Familie.“ Sarah hat sich gegen eine Rückkehr entschieden. Bis heute hat sie keinen Kontakt mehr zu ihren Verwandten. „Die brauche ich nicht zu meinem Glück“, sagt sie. Nach der räumlichen Distanz folgte die emotionale.

Mittlerweile wohnt Sarah einige hundert Kilometer von München weg. „Heute bin ich glücklich – beruflich und privat. Ich habe ein Recht darauf“, sagt sie. Die Weichen für ihr Leben habe IMMA gestellt. Das werde sie nie vergessen. „Ich kann nicht oft genug danke sagen“, meint Sarah und kämpft mit den Tränen. „Ohne IMMA hätte ich es nicht geschafft.“ Von Stefanie Moser

Artikel vom 20.11.2008
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