MIR e.V - Zentrum russischer Kultur feiert Jubiläum

Ein Stück verlorene Heimat

München· „Mit dem Verstand ist Rußland nicht zu fassen, gewöhnlich Maß misst es nicht aus: Man muß ihm sein Besondres lassen - Das heißt, dass man an Rußland glaubt.“

Diesen Vierzeiler verfasste der berühmte russische Dichter Fjodor Tjutschew vor 135 Jahren - heute klingt er aktueller denn je.

Nicht zuletzt deshalb, weil MIR e.V., das Zentrum russischer Kultur in München, in diesen Tagen sein 10-jähriges Jubiläum feiert. Aus diesem Anlass wartet MIR bis Februar 2002 mit einem umfangreichen Kulturprogramm in allen Münchner Stadtteilen auf. Zum Beispiel mit einem Konzert des „Peters Quartett“ in der Salvatorkirche am 24. November, einem russischen Weihnachtsabend am 7. Januar in der Seidlvilla oder einem kaukasischen Ballettabend am 9. Dezember im Anton-Fingerle-Bildungszentrum.

Das Jubiläumsprogramm endet am 16. Februar mit einem großen Kosaken-Karneval im Gasteig. (Nähere Informationen zu diesem Programm gibt es unter Tel: 52 96 73 oder im Internet unter www.mir-ev.de)

Gegründet wurde der Verein 1991 in Schwabing. Damals hatten es sich eine Kunstwissenschaftlerin, eine Übersetzerin, eine Studentin, eine Sängerin, ein Journalist und ein Jurastudent zur Aufgabe gemacht, eine Brücke zwischen der russischen und der deutschen Kultur zu bauen.

„Es war nicht nur deswegen, weil in diesen Jahren ganz Deutschland im Russland- und „Gorbi“-Fieber stand, sondern weil gerade damals der Zeitpunkt gekommen war, die traditionellen, jahrhundertealten Kulturbeziehungen zwischen den beiden Ländern mit Leben zu erfüllen,“ erzählt das siebte Gründungsmitglied, die Schauspielerin Tatjana Lukina. Sie ist heute Präsidentin und künstlerische Leiterin des Vereins.

Die Bildung eines russischen Kulturzentrums in München ist gewissermaßen die Fortsetzung einer uralten Tradition: Einer der größten ukrainisch-russischen Philosophen, Grigorij Skoworoda studierte im München des 18. Jahrhunderts.

Um die Jahrhundertwende wurde München zum Zentrum der russischen sozialdemokratischen Bewegung. In den Jahren 1900 bis 1902 bewohnte der Revolutionär Vladimir Uljanow eine kleine Wohnung in Schwabing. Hier schrieb er an seinem berühmten Werk „Was tun?“ und unterschrieb zum erstenmal mit dem Pseudonym „Lenin“. In Schwabing entstand vor 100 Jahren auch die legendäre Künstlerbewegung, die später als „Der blaue Reiter“ bekannt wurde.

Die Oktoberrevolution, der 2. Weltkrieg und die Fluchtwelle der Siebziger Jahre brachten immer wieder russische Flüchtlinge nach München - freiwillig und unfreiwillig.

„Die Russen in Bayern - das ist ein Thema, das sich glücklicherweise auf den zivilen Bereich beschränkt“, erklärt Ministerpräsident Edmund Stoiber in seinem Grußwort an MIR. „Viele russische Künstler fühlten sich bei uns wohl.“

So auch Tatjana Lukina, die während ihrer Studienzeit nach München kam. 1985 organisierte sie zusammen mit ihrem Kollegen Nikolaj Woronzow und der Unterstützung der Münchner Künstlerfamilie Schell im gerade neu gebauten Kulturzentrum am Gasteig den ersten Abend mit russischer Poesie. Der Erfolg war so groß, dass ein Jahr später die „Russischen Theatertage“ folgten, diesmal mit Unterstützung der Münchner Volkshochschule. Bis heute hat MIR viel erreicht: Jedes Jahr organisiert der Verein zahlreiche Konzerte, Lesungen und Theaterabende.

Auch auf diverse Publikationen können die Mitglieder stolz blicken. Die politische Situation war dabei nicht ganz unwichtig: „Mit der Wende brach eine neue Zeit an“, erklärt Lukina, die in Leningrad und St. Petersburg aufgewachsen ist. „Der kalte Krieg war zu Ende, die Revolutionen veränderten Osteuropa.“

Sie freut sich, wenn sie an die Zeit zurück denkt, in der die aus dem Englischen Garten gesendeten russischen Radioprogramme an Schärfe verloren. Als die Deutschen ihr Herz für Russland entdeckten. Hilfsaktionen, Care-Pakete, Spenden und Benefiz-Konzerte zugunsten von Glasnost und Perestrojka an der Tagesordnung waren. In jenen Tagen des Gorbi-Fiebers im Frühjahr 1994 veranstalteten die Exilrussen einen Monat der russischen Kultur in München.

Zum ersten mal gelang es, alle in Bayern lebenden, russischen Künstler zu einer gemeinsamen Solidaritätsbewegung für ihre Kollegen in Moskau und Leningrad zusammenzuführen. Eröffnet wurden die Kulturtage damals mit einer Bilderausstellung unter dem Titel „Auf der Suche nach der verlorenen Heimat“.

Diese Initiative weckte ein großes Interesse und am Ende der Kulturtage erklärten sich 500 begeisterte Münchner bereit, beim Aufbau eines russischen Kulturzentrums zu helfen.

So blieb nur noch eine Frage: Welchen Namen sollte das neue Zentrum bekommen? Die Lösung war schnell gefuden: MIR - das bedeutet zu deutsch Welt, Frieden und Gemeinde. „Man spricht heute viel über Multikultur. Sie soll zueinander führen, verbinden und verbrüdern. Die russische Kultur hatte schon immer diesen multikulturellen Charakter, weil sie sich aus der altslawischen, deutschen, französischen, tatarischen, jüdischen, baltischen, kaukasischen und vielen anderen Kulturen zusammensetzt“, weiß die MIR-Präsidentin.

Zehn Jahre ist sie und ihre Kollegen nun schon dabei „ihre“ Brücke zu bauen und die Kultur des einen Volkes mit der des anderen zu verbinden. Von Mensch zu Mensch, oder wie man in Rußland sagt: Von Seele zu Seele. ct

Artikel vom 21.11.2001
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