Kolumne „Philipp auf der Insel“: Austauschschüler in England

München · „Hast Du entschieden, ob Uni oder Ausbildung?“

In welche Richtung soll‘s gehen? 	 Foto: phil

In welche Richtung soll‘s gehen? Foto: phil

Diesmal taucht Philipp in die Welt der über 150 Universitäten auf der Insel ein und erzählt, wie die englischen Schüler darauf vorbereitet werden.

Goodbye Germany, England we’re coming

»Hast Du herausgefunden, in welche Richtung es bei dir geht? Hast Du entschieden, ob Uni oder Ausbildung? Hast Du im Auge, welche Ergebnisse Du dafür brauchst?«
Hört sich das nicht nach erstklassiger Berufsberatung kurz vorm Einschreibungstermin an? Es ist tatsächlich Berufsberatung, aber auf eine andere Art und Weise: Ich stehe gerade inmitten einer Halle von der Größe unserer Münchner Olympia-Halle und versuche vergebens mir einen Überblick über die 150 Informationsstände aller Universitäten des United Kingdom zu verschaffen.

Die farbenfroh präsentierte Behauptung jeder einzelner Universität zu den zehn besten der Insel zu gehören, fördert zwar weder die Orientierung noch die Bildung von Prioritäten, aber eines wird mir glasklar bewusst: Was den Deutschen statusgemäße glänzende Autos bedeuten, sind hierzulande die weltweiten »Vorzeige-Universitäten«. Nun könnte man fälschlicherweise vermuten, dass die einleitenden Fragen sich auf die Universitätsmesse in Bolton und ein paar für verzweifelte Abschluss-Schüler programmierte Webseiten beschränken, die allesamt den Traumberuf prophezeien und den Werdegang bis zur Rente gleich noch als Sonderangebot mitliefern – aber nicht hier in England.

Hier auf der Insel werden die Köpfe der Zukunft vom ersten Schultag an täglich daran erinnert, dass am Ende des Schulweges der Eintritt in die – wie man hier sagt – »alles entscheidende« Universität wartet und dass dieser mit jeder Schulstunde einen Stück näherrückt. Diese typisch britische Denkweise bringt leider auch die eine oder andere Hysterie von Seiten der Lehrer und Eltern mit sich, sodass sich manch ein Schüler auf »Tag-der-offenen-Tür«-Wanderschaft begibt und schon bald eine stolze Trophäensammlung von Besucherschildern ausstellen kann.

Vor allem aber hält dieser zielgerichtete Weg ungemein wertvolle Vorteile bereit, die darauf beruhen, dass jeder Schüler selbst seinen eigenen Trampelpfad durchs Entscheidungs-­Dickicht findet. Die Schule auf der Insel ist der Wegweiser am Eingang des Waldes – welche Abzweigungen, Umwege oder Abkürzungen du nimmst, liegt an deiner individuellen Wanderkarte. Seit ich dem englischen Grundprinzip der »Schul-Navigation« auf die Schliche gekommen bin, beginnt die anfangs untätig erscheinende Art des Unterrichts einen tiefen Sinn zu machen.

Obwohl die Allgemeinbildung bis zur elften Klasse nicht zu kurz kommt, wird jedem Schüler die Notwendigkeit der Spezialisierung in seinen Wanderrucksack gepackt. Wegen der Einschränkung auf vier Fächer in der Oberstufe wird jeder Schüler lange Jahre vor seinem Abschluss bereits gefragt, für was er wirklich brennt und wofür er einen ganzen Marathon und nicht nur einen Spaziergang laufen möchte.

Jede Schulstunde wird zu einer Herausforderung und Bob Marley mit »Get up, stand up« wird auf einmal Schulalltag. Mit dem tagtäglichen Schreiben von Geschäftsplänen lässt sich die zuvor abstrakte Struktur von Business Studies gleich viel leichter einprägen. Selbst größte Mathe-Muffel spucken in der Psychologie-Stunde plötzlich geradezu penibel genaue Statistiken über selbst durchgeführte Experimente aus.

»Könnt ihr eigentlich denken?« Jeder Schüler ist dieser Frage verzweifelter Lehrer im Laufe der Jahre begegnet. Die viel interessantere und nicht ironische Frage ist aber doch, ob von uns Schülern überhaupt erwartet wird, zu denken. Mr. Keith Sowden, Deputy Mayor und Professor an der Lancaster University, bringt den Unterschied der Bildungssysteme kulinarisch auf den Punkt: »In Deutschland wird den Schülern ein fertiges Gericht vorgesetzt, das auf diese einzige Art und Weise zu kochen ist – ja nicht anders. Hier in England werden den zukünftigen Köchen zwar die Zutaten vorgelegt, aber die Mahlzeit muss selbst kreiert werden.«

Mit dem Lernprinzip des tagtäglichen Findens von Lösungen offener Fragen habe ich mich sofort angefreundet – ebenso mittlerweile in der Messehalle mit der Informationsflut, die an drei voll bepackt von Stand zu Stand zu tragenden Taschen deutlich zu spüren ist. Die roten Striemen an den Händen zeigen die Wichtigkeit der an jedem Stand verabreichten »Schinken« über die Einzigartigkeit der betreffenden Uni, die Breite der Kurse und den Bewerbungsprozess.

In der Aussicht, dass jeder Anwesende hier heute seinen ultimativen Studiengang finden könnte, wird die Atmosphäre nun zunehmend hektisch. Jeder möchte so viel Information mit nach Hause nehmen wie irgend möglich. Je weiter der kleine Zeiger auf der massiven tickenden Standuhr vorrückt, umso schneller werden die Schritte zwischen den Ständen und länger die Warteschlangen vor denselben.

Jede Hochschule hat ihren eigenen Ruf, ihre eigene Geschichte und ihren Stolz auf die hervorgebrachten Söhne und Töchter. Standard zu sein und Bildungsstandards zu vermitteln, damit gibt sich kein Professor zufrieden. Jeder Stand in dieser Halle vermittelt überzeugend das Gefühl von Einzigartigkeit und Elite. Da hätten wir dann auch den Grund der großen Rivalität gefunden, die für uns nicht nur britisch klingt, sondern auch in Bestsellern wie Harry Potter anklingt.

Die tiefe Bedeutung des Universitätsnamens und weniger des Studienganges zeigt sich, wenn Eltern sich über den Werdegang ihrer Kinder austauschen und stolz oder aber bemitleidend den gutklingenden Namen auf der Zunge zergehen lassen. Auch im Angebot der Kurse wird nicht verallgemeinert: Nur die wenigsten Kurse finden sich identisch an zwei verschiedenen Ständen und zukunftsorientierte Fächer, für die es im Deutschen nicht einmal einen Namen gibt, werden einfach in jeder Universität selbst entwickelt. Der klare Charakter jedes Hauses, der gelebte Wettbewerb und der Ehrgeiz, zu den Besten zu gehören, verleiht jedem englischen Campus zu Recht diese Würde im Klang des Namens.

Die Türen schließen sich, der Bus setzt sich in Bewegung und die Oberstufe aus Lancaster begibt sich mit neuen Wegweisern zurück auf den langen Weg zur Antwort auf die Frage: Wo ist mein Platz? Natürlich präsentiert sich auf solch einer Messe jeder nur im besten Licht. Trotz aller Effekthascherei mit Präsentationen und Glanzprospekten und trotz der Hektik des Tages kann ich verraten: Ich habe meinen Favoriten tatsächlich gefunden – und nicht nur ich.

Artikel vom 12.03.2012
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