Kolumne „Philipp auf der Insel“: Austauschschüler zieht Halbzeitbilanz

München · Nur noch vierzig Tage in England

Austauschschüler: völlig unterschiedliche Menschen haben eine Gemeinsamkeit. Das schweißt zusammen.	Foto: phil

Austauschschüler: völlig unterschiedliche Menschen haben eine Gemeinsamkeit. Das schweißt zusammen. Foto: phil

Wie wird man zum Austauschschüler? Ist es der profane Vorgang der Anmeldung, doch die Ankunft im Gastgeberland oder sogar erst der Aufenthalt? Wir begleiten seit Wochen den Giesinger Philipp von der Wippel (16) in England.

Jetzt zieht er eine Halbzeitbilanz seines Aufenthalts als Austauschschüler; als Botschafter Münchens und Deutschlands; als „im Herzen auch Engländer“.

Goodbye Germany, England we’re coming

Es ist Halbzeit. Die Hälfte der Strecke ist geschafft. Nur noch vierzig Tage.

Zumindest für diejenigen, die wie ich drei Monate hier in das englische Leben eintauchen, zur Schule gehen und das Land sowohl in schönen als auch in unbequemen Facetten kennenlernen – Zeit also, um ein bisschen zurückzublicken. Wir Austauschschüler gehen alle gemeinsam in Heysham auf die High School, wir alle leben in Gastfamilien und besonders die Gemeinsamkeit des Fernseins von zuhause schafft den starken Zusammenhalt zwischen uns Austauschschülern. Die Geschichten und Erfahrungen der Einzelnen sind jedoch von Person zu Person ganz unterschiedlich, und wenn man genauer hinsieht, erkennt man plötzlich aus der Gruppe heraus die einzelnen Charaktere aus unterschiedlichen Nationen, die gerade ihr großes Abenteuer leben, sich währenddessen sichtbar in Sprüngen weiterentwickeln und dieselben Situationen unterschiedlich auffassen.

Allein schon wann und wie der Entschluss gefasst wurde, auf die Insel „auswandern“ zu wollen, unterscheidet sich von Kofferbesitzer zu Kofferbesitzer. Der eine hat das Austauschprogramm schon zwei Jahre im Voraus gebucht und seitdem die Tage bis zum 3. Januar gezählt, der andere ist durch Zufall vier Wochen vor Abflug noch auf die Teilnehmerliste gerutscht und mancher musste nach Ankunft erst einmal herausfinden, wo Lancaster denn auf der Landkarte liegt. Manche tun es ihren großen Geschwistern gleich, die bereits ein vergleichbares Abenteuer hinter sich haben. Andere wiederum haben im Laufe der Zeit den Wunsch gefestigt, diesen Traum in die Realität umzusetzen. Mir persönlich erschien es erst sehr fern, in dem Alter ins Ausland zu gehen. Als aber dann das Thema „Ausland“ im Freundeskreis immer häufiger kam und sich die ersten Klassenkameraden auf die Südhalbkugel absetzten, begann ich konkret darüber nachzudenken und ließ mir eine Palette von unterschiedlichsten Angeboten schicken – von Australien bis Argentinien, von Kanada bis Norwegen. Im Juni vergangenen Jahres fällte ich schließlich die Entscheidung, ein Vierteljahr in England zu verbringen, und im August wurde bereits der endgültige Vertrag unterschrieben. De facto kam jeder von uns über einen anderen Weg auf die Insel – das Ziel war das Gleiche.

Genauso interessant und reizvoll ist es, die Hauptgründe und -motive für den Auslandsaufenthalt hier in Nordengland miteinander zu vergleichen. Erst letzte Woche hat mir ein anderer Austauschschüler erklärt, dass er die Zeit hier nutzen möchte, um negative Geschehnisse und Fehler hinter sich zu lassen und ambitioniert, mit klaren Zielen vor Augen zurückzukehren. Nicht wenige führt die Liebe zu England selbst hierher und lässt manche auch nie mehr los, sodass sich dreimonatige Aufenthalte auch schon zu Schulabschluss, Studium, Arbeitsplatz, Familiengründung und Pension ausgeweitet haben. Der zentrale Grund, der alle verbindet, besteht selbstverständlich im fehlerfreien Erwerb der Weltsprache, die sich durch dauerhaftes Sprechen und Hören täglich verbessert. Auch wir deutschen Schüler haben uns darauf geeinigt, ausschließlich in der Landessprache zu kommunizieren, um nicht zwischen den Sprachen hin und her wechseln zu müssen, sondern sogar möglichst in Englisch zu denken und zu träumen. Mich persönlich hat die Herausforderung besonders gereizt, in einer fremden Kultur zu landen, in ein schlicht unbekanntes Umfeld von Familie, Freunden und Umgebung geworfen zu werden und zu lernen, in jedem Zuhause eine Heimat zu finden. Schon zum Halbzeitpfiff kann ich grünes Licht geben, dass das mehr als gelungen ist.

Die Verschiedenheit der Betrachtungsweise habe ich gespürt, als ich jeden nach dem größten Unterschied zwischen der ursprünglichen Heimat und dem vorübergehenden Zuhause befragt habe. Einem Mitstreiter von der Küste Süditaliens macht zum Beispiel besonders das beständig eintönig graue Wetter zu schaffen, wohingegen er die Höflichkeit hierzulande wiederum sehr schätzt. Wir deutschen Schüler geben uns demgegenüber mit den anhaltenden fünf Grad Celsius sehr zufrieden, wenn Berichte von der zuletzt sibirischen Kälte aus Deutschland ankommen. Dafür mussten wir erst einmal lernen, die viele freie Zeit zwischen den einzelnen Schulstunden richtig zu nutzen und nicht als Freistunden zu deklarieren. Die existenzielle Suche nach alternativer Essensbeschaffung vereint wiederum Europäer, Amerikaner und Asiaten – wir haben unsere Wege gefunden, trotz gelegentlich nicht essbaren Mahlzeiten nicht vom Fleisch zu fallen.

Der gravierendste Unterschied bestand für mich gerade in den ersten Wochen darin, dass es in England eher die Ausnahme als die Gewohnheit ist, sich nachmittags oder am Wochenende privat zu treffen. Alles spielt sich in der Schule ab und darüber hinaus in Clubs aller Art. Die Einladung in das private Territorium kommt dann in etwa der Aufnahme als Familienmitglied gleich. Wir alle kommen aus verschiedensten Gegenden der Welt, bringen eigene Geschichten mit, erleben das gleiche Abenteuer und können uns momentan kaum ein anderes Leben vorstellen. Ist Heimat vielleicht doch nicht dort, wo man geboren ist? Ein guter Freund gab mir „Home is where your heart is“ mit auf den Weg.

Artikel vom 23.02.2012
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