Kolumne „Philipp auf der Insel“: Die Besucher erheben sich als Wertschätzung gegenüber den Akteuren

München · Was fühlt ein Rugby-Ei?

Vor und nach dem Spiel sind alle Kumpels. Dazwischen wird hart gekämpft.	 Foto: phil

Vor und nach dem Spiel sind alle Kumpels. Dazwischen wird hart gekämpft. Foto: phil

Wie fühlt sich eigentlich ein Fußball während des Spiels? Oder ein Rugby-Ei? Der Giesinger Austauschschüler Philipp von der Wippel (16) hat in England ein Rugbymatch besucht und sich in das heißumkämpfte Spielgerät hineinversetzt.

Goodbye Germany, England we’re coming

Ich bin nicht rund. Viele nennen mich »das Ei«. Die Haifische fallen regelmäßig über mich her. Und heute kommen die gefährlichen Warriors zu Besuch, um mich möglichst öfter hinter eine Linie zu tragen als die Sharks – was für eine Ehre! Es dauert noch zwei Stunden, bis das Spiel startet, doch die Stadionränge sind alles andere als menschenleer. Clubs aus ganz England kommen heute Abend mit Bussen nach Sale. Dass sich die weitgereisten Fans wie zu Hause fühlen, dafür haben wir gesorgt: Am Vorplatz der Arena sind Fish’n’Chips-Buden und Bierzelte aufgebaut, in denen man sich mit britischer Marschmusik im Hintergrund auf das Spiel einstimmt und lauthals sehr unterschiedliche Endstände prophezeit.

Der Lärmpegel schießt dementsprechend an Rugby-Abenden hier in der Umgebung gewaltig in die Höhe, sodass den unmittelbaren Anwohnern des Ground nur drei Möglichkeiten bleiben: Entweder sie bleiben in ihrem Häuschen und werden gestört, sie flüchten zur Erbtante oder sie nutzen die privilegierte Lage und stürzen sich mit Freude ins Vergnügen. Beinahe alle wählen Letzteres und das nicht selten sogar zweimal die Woche, da nicht nur die Sharks hier beheimatet sind, sondern auch der Fußballclub aus Sale.

Die Doppelnutzung hat zur Folge, dass stets rechtzeitig umgebaut werden sollte. Das hohe H-förmige Rugby-Tor wird gegen den Fußballkasten eingetauscht, die Markierungen auf dem Rasen werden bestmöglich angepasst und ich werde durch meinen runden Erzrivalen vertreten. Apropos Fußball: Ich persönlich empfehle ja jedem Engländer sich dem Rugby zuzuwenden und darin sein angeborenes in die Wiege gelegtes Talent weiterzuentwickeln. Denn der ursprünglich englische Sport Fußball wird mittlerweile rund um den Globus gespielt. Das wäre an sich noch wunderschön, doch einige Länder haben seit geraumer Zeit begonnen, besser zu spielen als wir, sodass wir auf Platz fünf in der Weltrangliste gerutscht sind und in Turnieren nicht mehr als Schreckensgegner angekündigt werden, sondern mehr als lösbare Aufgabe. Im Rugby dagegen werden wir weiterhin zu Recht als Angstgegner bezeichnet und können uns mit allen Nationen der Rugby-Welt messen, die aber an einer Hand abgezählt werden können. Deshalb bin ich froh ein Rugbyball zu sein, da die Engländer öfter über mich jubeln als weinen. Außerdem haben Fußball und Rugby ohnehin die gleichen englischen Wurzeln und haben sich erst später durch die Verfeinerung in den sogenannten Cambridge Rules mehr und mehr abgespaltet.

»Ta-ta-ta-taaa«, die Clubhymne erschallt und die Spieler laufen unter Jubel der Fans zum Aufwärmen ein. Ich muss aufpassen, dass ich mich nicht einschüchtern lasse, wenn ich die muskelbepackten keulenähnlichen Oberschenkel, die schrankbreiten Schultern, die T-Shirt dehnenden Oberarme und die überproportional großen Hände auf mich zurennen sehe und der Spielabend damit für mich beginnt. Nach kurzer Übelkeit vergeht das flaue Gefühl auch ganz schnell und mutiert in Vorfreude auf das anstehende Topspiel.

Währenddessen wandert nun der Rest der Fangemeinde vom Bierzelt zum Platz auf der Tribüne. Beim Rugby sitzen die Fans der beiden Mannschaften nicht getrennt in verschiedenen Blöcken, sondern positionieren sich kunterbunt gemischt in der ganzen Arena. Krawalle oder Ausschreitungen existieren im Rugby nahezu nicht. Beim Rugby sind die Raufbolde auf dem Feld, und die Zuschauer bleiben friedlich. Wenn ich die Zuschauer des Rugbys mit denen des Fußballs vergleiche, fällt mir auf, dass die Fußballbegeisterten mit weit mehr Hysterie an die Sache herangehen, dahingegen das Rugby um einiges persönlicher ist, was die fehlenden Absperrungen zum Spielfeld am besten zeigen. Die Musik erschallt ein zweites Mal, und die Spieler laufen nun startklar für das Spiel mit Trikot auf das Feld.

Die ganze Stadionmenge erhebt sich als Wertschätzung gegenüber den Akteuren von ihren Sitzen und der Stadionsprecher beginnt, mit lauter Unterstützung der Fans die heute Aufstellung vorzulesen. Los geht’s! Der Kapitän der Sharks schießt mich weit in die Luft Richtung gegnerisches Tor. In Formation stehen die Warriors kampfbereit in einer Linie, heben zu zweit einen Mitspieler hoch in die Luft und erreichen mich in drei Metern Höhe. Das ist die Erlaubnis zum Kampf. Sofort stürzen sich vier Sharks und dazu drei Warriors ohne jeden Schutz (abgesehen von Mundschutz) auf mich, bis sich keiner mehr einen Zentimeter bewegen kann. Zähne zusammenbeißen und leiden – erst dann geht es weiter. Die Sharks rücken mit mir im Gepäck weiter vor, während sie mich quer zupassen, da steiles Passen, wie es im Fußball üblich ist, verboten ist. Plötzlich nimmt die Nummer 9 mich unter den Arm und rennt los.

Die Menge beginnt »Try!« zu schreien und feuert damit den Spieler an, durch die gegnerische »Mauer« zu brechen, mich hinter die Linie zu bringen und so die maximale Zahl von fünf Punkten zu scoren. Die Warriors springen aus ihrer Defensivhaltung auf und bringen zu fünft mit allen Mitteln meinen Träger brutal zu Fall. Alle reißen sich um mich – wie aufregend! In der Überzeugung, ein Foul gesehen zu haben, pfeift der Schiedsrichter ­penalty kick und die Sharks haben die Möglichkeit, mich ungehindert zwischen den beiden Stangen des anvisierten Tores zu platzieren. Die Fangemeinde beginnt zu rufen »Come on, do it!« Die Nummer 9 schießt mich in hohem Bogen in Richtung Tor, ich segle durch die Luft, die Blicke der Massen folgen mir, ich streife eine Stange und fliege tatsächlich durch das Tor. Die Tribüne klatscht und die Anzeige rutscht auf 3:0. Die Spieler rasen das Spielfeld auf und ab, ein Angriff nach dem anderen, keine Minute ohne Adrenalin und die Fans gleichen aufgrund der Schnelligkeit des Spiels einer kopfschüttelnden Menge. Die Warriors tun ihrem Namen alle Ehre und kommen hartumkämpft ins Spiel zurück. Die verbleibende Zeit springt auf Null, der Schiedsrichter pfeift ab, die Menge applaudiert und die Spieler gehen mit dem Pausenstand 9:6 für die Warriors in ihre Kabinen, während ich im Gras eine kleine Pause genieße.

Hier versucht kein Moderator, die Menge vergeblich zum Lachen zu bringen. Stattdessen findet ein zehn-minütiges heißumkämpftes Match zwischen den Profis der nächsten Generation statt. Die aus Achtjährigen bestehende Mannschaft aus Lancaster spielt gegen die aus Preston. Ich höre die Menge bei jedem Spielzug jubeln und die Spieler in den viel zu großen Trikots geben alles.

Die zweite Hälfte beginnt wie die erste Hälfte geendet hatte: Jede Spielsituation ist voll mit Willenskraft und Ehrgeiz. Jeder Einzelne gibt sein Bestes, was ich an der braunen Farbe der zuvor weißen Hosen und Trikots erkenne. Die Härte des Einsatzes nimmt erheblich zu und der Sportarzt ist nun alle paar Minuten auf dem Spielfeld zu sehen. Die letzten zehn Minuten sind angebrochen, und die Menge erhebt sich von ihren Sitzen, um die Heimmannschaft noch energischer anfeuern zu können. Wahrscheinlich gerade deswegen schaffen es die Sharks, fünf Minuten vor Ende mit mir den Gleichstand zu erzielen und drei Minuten vor Abpfiff das Spiel zu wenden. Mit einem weiten Schuss in die gegnerische Hälfte pfeift der Schiedsrichter mit dem Endergebnis von 15:12 für die Haifische ab. Die Spieler kommen zusammen und klatschen sich ab, Fans kommen auf das Spielfeld um den Akteuren für den Sieg zu gratulieren oder Hochachtung für das knapp verlorene Spiel auszusprechen, und ich liege meine Wunden auskurierend im Gras und schalte das Flutlicht ab, bis es nächste Woche wieder heißt: »Come on! Do it!«

Artikel vom 14.02.2012
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