Kolumne „Philipp auf der Insel“: Linksfahrgebot, gilt auch für das Gehen durch einen Korridor

München · Auf nach Liverpool

In Liverpool den Beatles über den Zebrastreifen folgen – eigentlich ganz einfach.	Foto: phil

In Liverpool den Beatles über den Zebrastreifen folgen – eigentlich ganz einfach. Foto: phil

Wer drei Monate in England ist, der will auch das Land kennenlernen. So wie der Giesinger Austauschschüler Philipp von der Wippel (16), der sich vorgenommen hat, »in 88 Tagen England« zu erkunden. Wenn da nur nicht der verwirrende Rechtsverkehr wäre…

Goodbye Germany, England we’re coming

»Philipp, do you want to drive today?«, fragt mich meine Gastmutter Lydia mit ironischem Blick. »Nein, nicht schon wieder!« ist die einzige Antwort, die mir in diesem Moment einfällt. Ich habe gerade wieder einmal überzeugt versucht, auf der Fahrerseite des Autos einzusteigen. Wie es scheint, ist der Linksverkehr mit all seinen Tücken mir immer noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen. Nach schnellem Platzwechsel geht es dann aber wirklich los in Richtung Liverpool. Nach Manchester und London ist das schon die dritte Stadt meines Projektes »In 88 Tagen England erkunden«. Der erste Stopp ist aber in Ormskirk, wo mein Gastbruder Alex heute sein entscheidendes Vorstellungsgespräch für die Universität hat. Das Navi zeigt zwei Stunden Fahrtdauer an – es ist bisher meine längste Autofahrt in England. Und ganz gleich, ob ich Musik höre, mich unterhalte, etwas lese – immer wieder halte ich die Luft an, wenn wir an einen Kreisverkehr (genannt »roundabout« – wie das Karussell und der Name kommt nicht von ungefähr…) gelangen und das Auto partout »falschherum« seine Runde dreht. Da merke ich eigentlich erst, wie sehr ich auf Rechtsverkehr eingestellt bin, dass das Linksfahren wirkliches Unbehagen und ein Gefühl von »Falschsein« auslöst.

Der Roundabout ist jedoch bei weitem nicht die einzige Situation, in der ich erst einmal klären muss, welche Seite welche ist. »Links ist da, wo der Daumen rechts ist«, hilft da auch nicht mehr weiter. Die erste Verwirrung noch im Halbschlaf frühmorgendlich beim Überqueren der Hauptstraße: Jedem Kind wird die einfache Folge von »links-rechts-links«, bevor man die Straße betritt, im frühesten Alter eingebläut. Und dann kommen die böswilligen Autos plötzlich von der anderen Seite gebraust. Auf nichts ist hier Verlass! Wenn man lebend an der Busstation angekommen ist, lauert schon die nächste Falle. Ich habe diese Erfahrung letzten Sonntag frierend gemacht, als ich eine halbe Stunde in Eiseskälte auf meinen Bus gewartet habe. Als er kam, war ich auf der falschen Seite.

Haben Sie den Weg zur Busstation überlebt, auf der richtigen Seite gewartet und Ihr Bus steht bereits vor Ihnen? Dann haben Sie schon ein großes Stück zu Ihrem Ziel geschafft, aber bei weitem noch nicht alles. Aufgepasst: Jetzt lernen Sie ein englisches Phänomen kennen. Die Inselbewohner bilden immer und überall eine Warteschlange. Seien es nur zwei Leute, die mit Ihnen auf den Doppeldecker warten, Sie werden mit Schmunzeln sehen, dass es möglich ist, zu dritt eine Reihe zu bilden. Das tatsächliche Erreichen Ihres Zielortes ist auch jetzt noch nicht garantiert. Sie müssen nämlich wachsam genau vor Augen haben, wie die Umgebung Ihrer Zielstation aussieht, denn Ansagen sowie Anzeigen der nächsten Haltestelle werden als überflüssig oder störend ­erachtet. Einfach Haltestellen zählen? Auch Fehlanzeige, denn Ihr Busfahrer wird nur halten, wenn auch wirklich jemand signalisiert, aussteigen zu wollen. Sie haben es fertig gebracht, zur richtigen Zeit an der richtigen Station auszusteigen? Dann haben Sie es so gut wie geschafft, aber vergessen Sie nicht: Der Linksverkehr zieht sich durch alle Lebenslagen. Er ist nicht nur ein Teil der Straßenverkehrsordnung – nein, er ist viel mehr ein Lebensgefühl der Briten. Das gilt übrigens auch für das Gehen durch einen Korridor: Gehen Sie stets links, sonst werden Sie den einen oder anderen bösen Blick einfangen!

Ich sitze immer noch leicht nervös im Auto, jedoch mit steigender Hoffnung, in Liverpool anzukommen. Mein Blick wandert einige Male zwischen Armaturenbrett und Fenster hin und her. »What? Die Landschaft rast vorbei und wir fahren angeblich nur 70?« Alex versteht sofort und erinnert mich lachend daran, dass die autarken Engländer doch in allen Lebenslagen ihre Einheiten stur beibehalten haben: Auf der Autobahn Meilen und nicht Kilometer, bei der Bank nicht Euro, sondern Pfund und im Pub nicht Liter sondern Pints. »You have just reached your final destination.« Wie erleichternd kann die Stimme eines Navis sein? Denn jetzt steht den Beatles nichts mehr im Wege: keine Kreisverkehre und keine Zebrastreifen – oder vielleicht doch?

Artikel vom 23.01.2012
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