Die Bundestagsabgeordnete Claudia Tausend erklärt, was TTIP kann – und was es bringen muss

»Wir brauchen hohe Standards«

»Für unsere hohen Standards im Sozial- und Umweltbereich oder bei den Arbeitnehmerrechten haben wir in der SPD jahrzehntelang gekämpft, die werden wir sicher nicht für ein Handelsabkommen zur Disposition stellen«, sagt Claudia Tausend. F: Job

»Für unsere hohen Standards im Sozial- und Umweltbereich oder bei den Arbeitnehmerrechten haben wir in der SPD jahrzehntelang gekämpft, die werden wir sicher nicht für ein Handelsabkommen zur Disposition stellen«, sagt Claudia Tausend. F: Job

München · Brauchen wir TTIP? Im Februar verhandeln USA und EU in zwölfter Runde über das Freihandelsabkommen. Im Gespräch mit Johannes Beetz erklärte Claudia Tausend, TTIP-Expertin im Bundestag, was sie sich von dem Freihandelsabkommen verspricht - und was sie dafür keinesfalls aufgeben will.

Deutschland gehört zu den »Exportweltmeistern«, Verbraucher profitieren vom globalen Handel: Brauchen wir TTIP, um unseren Wohlstand zu sichern oder um unsere Standards zu stärken, ehe Länder wie China und Indien mit den USA niedrigere durchsetzen? Worin sehen Sie die größten Chancen von TTIP? Welche wirken sich direkt auf Verbraucher aus?

Claudia Tausend: Produktionsketten laufen heute kontinentübergreifend. In der Exportnation Deutschland - und insbesondere in der Region München! - hängt schon jeder zweite Arbeitsplatz am Export. Da brauchen wir hohe Standards und sichere Lieferketten. Und wenn sich die zwei größten Wirtschaftsräume der Welt, die EU und die USA, die zusammen etwa die Hälfte des globalen Handels ausmachen, gemeinsame Standards geben, dann ist das schon weltweit maßstabsetzend. Wir wollen die Globalisierung steuern, mit Mindeststandards im Sozialbereich und Arbeitnehmerrechten oder etwa Umweltstandards - und das geht mit den USA sicherlich einfacher als mit China oder Indien.

Bezüglich der direkten Auswirkungen auf Verbraucher: Das Abkommen ist ja noch nicht ausverhandelt, ich halte nichts von Studien, die da schon BIP-Wachstum in Prozenten vorhersagen wollen. Das werden langfristige makroökonomische Auswirkungen sein. Ich denke, ehrlich gesagt, dass der Verbraucher da kurzfristig erst mal nicht so viel spüren wird.

Wäre ein Abkommen, das mehr als zwei Seiten betrifft, nicht sinnvoller?

Claudia Tausend: Selbstverständlich. Eine globale Handelsordnung auf WTO-Ebene, also der Welthandelsorganisation, wäre auf jeden Fall die viel bessere Lösung. Leider ist das aber nicht umsetzbar, weil Länder wie Russland, China oder Indien das ablehnen. Weil wir aber Regeln für den internationalen Handel brauchen, ist die EU-Kommission zur zweitbesten Lösung übergegangen und schließt bilaterale Abkommen ab – übrigens nicht nur mit den USA, sondern mit Dutzenden von Partnern. Ich hoffe trotzdem, dass wir irgendwann bei der aktuellen Doha-Runde der WTO weiterkommen – das hat für mich auf jeden Fall Priorität.

Die Skepsis der Bürger gegenüber TTIP ist groß. Wesentliche Kritikpunkte sind mangelnde Transparenz, die Schiedgerichtsverfahren und die befürchtete Aufgabe von Standards (Arbeitnehmerrechte, Lebensmittelsicherheit, Verbraucherschutz). Wo sind für Sie rote Linien?

Claudia Tausend: Die SPD hat ja schon im Jahr 2014 auf einem Parteikonvent rote Linien festgelegt und diese auf unserem Bundesparteitag vor letzten Oktober nochmals bestätigt. Im Wesentlichen teilen wir die Kritikpunkte, die Sie eben genannt haben. Deshalb sage ich ganz klar: Wir werden keinen Zwang zur weiteren Liberalisierung oder Privatisierung - gerade der öffentlichen Daseinsvorsorge - akzeptieren. Keine Absenkung der Sozialstandards sowie Umwelt- und Verbraucherschutzstandards! Keine Aushebelung der Parlamente! Und keine private Schiedsgerichtsbarkeit!

Die Schiedsverfahren haben Sie als »K.O.-Kriterium« bezeichnet. Was verbirgt sich hinter diesen Verfahren?

Claudia Tausend: Deutschland hat vor Jahrzehnten diese Praxis selbst eingeführt, um Investitionen in Staaten mit hoher Rechtsunsicherheit zu schützen. Eigentlich ein guter Gedanke. Aber gerade in den letzten Jahren wurden Schiedsverfahren oft missbraucht. Ein paar wenige spezialisierte Anwälte könnten unter Ausschluss der Öffentlichkeit Staaten zu milliardenschweren Strafen verurteilen, ohne dass das Gemeinwohl berücksichtigt wird.

Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat den Vorschlag gemacht, statt der Schiedsgerichte einen echten Handelsgerichtshof mit den USA aufzubauen: mit Berufsrichtern, öffentlichen Verhandlungen und einer Berufungsmöglichkeit. Ist das eine durchsetzbare Alternative?

Claudia Tausend: Es ist jedenfalls die einzige Alternative, mit der das Abkommen durchsetzbar wird. Ich halte den Vorschlag von Sigmar Gabriel für sehr gut: Er nimmt die Kritik am alten Schiedsgerichtssystem auf und bettet den Investitionsschutz in ein öffentliches Gerichtssystem ein, das ähnlich wie herkömmliche Gerichte arbeitet und auch das Gemeinwohl im Blick hat. Die Kommission hat den Vorschlag schon aufgegriffen. Jetzt müssen wir noch die Amerikaner überzeugen – und übrigens auch die Kanadier, denn für CETA muss das neue System auch gelten!
(Anm. d. Red.: CETA ist als europäisch-kanadisches Freihandelsabkommen ein »Muster« für TTIP. Der Vertrag wurde erst nach Abschluss der Verhandlungen 2014 veröffentlicht. CETA ist noch nicht in Kraft, da die Zustimmung des Europäischen und des kanadischen Parlaments fehlen).

»Hohe Standards werden nicht gesenkt«, hat US-Handelsbeauftragte Michael Froman versichert - etwa die bei Gesundheit, Sicherheit und Umwelt. Aber wie kann das bei unterschiedlichen Ausgangslagen und Interessen sichergestellt werden? In der Regel einigt man sich ja leichter auf den kleinsten gemeinsamen Nenner.

Claudia Tausend: Also, für unsere hohen Standards im Sozial- und Umweltbereich oder bei den Arbeitnehmerrechten haben wir insbesondere in der SPD jahrzehntelang gekämpft, die werden wir ganz sicher nicht für ein Handelsabkommen zur Disposition stellen. Das sieht man übrigens auf der anderen Seite des Atlantiks ganz genauso. Aber bei TTIP geht es auch hauptsächlich um die gegenseitige Anerkennung von Standards oder technischen Prüfverfahren. Hier gibt es viel Doppelbürokratie, die unnötig Geld und Zeit kostet. Man darf hier natürlich keinesfalls pauschal gegenseitig anerkennen, sondern muss den Einzelfall prüfen und die Gleichwertigkeit der Standards nachweisen.

Die mangelnde Transparenz der Verhandlungen und die Abkopplung z.B. der Schiedsgerichte von parlamentarischen Prozessen nährt die Befürchtung der Bürger, es sei ein nachteiliges Abkommen zu erwarten. Jürgen Hardt ist außenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag und warnt dagegen davor, die Frage der Transparenz der Verhandlungen zu wichtig zu nehmen. Entscheidend seien die Ergebnisse, die am Ende vorgelegt werden. Geben wir damit nicht demokratische Grundsätze und Mitgestaltungsmöglichkeiten auf?

Claudia Tausend: Das sehe ich ganz anders als mein Kollege Hardt. Transparenz ist gerade bei einem so umfassenden Abkommen wie TTIP wichtig. Die unerträgliche Geheimniskrämerei der Kommission zu Beginn der Verhandlungen hat viel Misstrauen geschürt. Ich finde richtig, dass die neue Kommission, auch durch den Druck der Öffentlichkeit und der SPD im Bundestag und im Europäischen Parlament, jetzt die Verhandlungsergebnisse nach jeder Verhandlungsrunde ins Internet stellt und auch viele Positionspapiere öffentlich zugänglich macht. Bald dürfen ja auch wir Bundestagsabgeordnete in Berlin Einsicht in die Verhandlungsdokumente der laufenden Verhandlungen nehmen. Dafür mussten wir allerdings lange und hart kämpfen – so etwas sollte selbstverständlich sein!

Wie erleben Sie die »Anti-TTIP-Bewegung«? Zeigt sich hier – wie beim Engagement vieler Bürger für Flüchtlinge - ein Mitgestaltungswille der Menschen, ein Signal gegen »Politikverdrossenheit«?

Claudia Tausend: Ich finde das richtig und gut, dass das Thema aus den Hinterzimmern und Expertenrunden rausgekommen ist und in der Öffentlichkeit breit diskutiert wird. Das hat ja auch schon Wirkung gezeigt bei den Verhandlungsführern und es unterstützt uns auch bei dem Druck, den wir vom Bundestag aus auf die Kommission ausüben. Dass so viele Menschen bei einem so technischen Thema mitreden wollen, ist beeindruckend und hilft uns sehr, diese Abkommen im Detail in und mit der Öffentlichkeit durchzudiskutieren.

Solche Handelsabkommen sind natürlich hochkomplexe Themen, deshalb muss man vorsichtig sein, nicht zu sehr zu vereinfachen. Manchmal wird in der wichtigen Diskussion über TTIP und CETA berechtigte Kritik etwas entwertet, wenn man in einem 60-Sekunden-Video auf Youtube etwa das Ende der Demokratie durch TTIP heraufbeschwört. Ich plädiere deshalb für Sachlichkeit in der Debatte, weil das einfach zielführender ist: Man braucht einfach mehr als ein kurzes Video, um den Sachverhalt zu erklären, und es gibt genug zu kritisieren, ohne gleich den Weltuntergang zu prophezeien. Die Zeit und Differenzierungsbereitschaft sollte man sich nehmen.

Handel und Wirtschaft haben sich in den letzten Jahren grundlegend verändert: Zuwächse verbucht nur noch der Online-Handel, während der stationäre Handel vor Ort stagniert. Internationale Unternehmen missachten nationale Regeln - uns gehen Steuern verloren. Wird diese Entwicklung durch TTIP verstärkt?

Claudia Tausend: Besteuerung regelt TTIP nicht. Da macht aber die neue EU-Wettbewerbskommissarin einen ganz guten Job, finde ich, und geht gegen Steuerschlupflöcher für multinationale Konzerne in Europa konsequent vor. Und dass der Online-Handel auf Kosten des stationären Handels auch in Zukunft weiter wächst, wird wohl mit oder ohne TTIP passieren in einer sich immer stärker vernetzenden digitalisierten Welt. TTIP kann sich aber auswirken auf die Warenvielfalt, die angeboten wird, und auch die Preise für Konsumenten. Und natürlich auf Produktionskosten von Gütern, die immer mehr regionen- und kontinentübergreifend hergestellt werden. Das wirkt sich aber mehr auf mittelständische Unternehmen aus, für die es sich dann eher rechnet, auch auf dem jeweils anderen Kontinent ihre Produkte anzubieten. Die großen Multis sind ja eh alle schon da.

Sie haben nach der NSA-Affäre ein Aussetzen der Verhandlungen gefordert, da Vertrauen verloren gegangen war. Jetzt läuft die nächste Verhandlungsrunde. Sehen Sie das Vertrauen wiederhergestellt? Und wann erwarten Sie den Abschluss und die Umsetzung des Abkommens?

Claudia Tausend: Mittlerweile hat ja der NSA-Untersuchungsausschuss im Bundestag herausgearbeitet, dass unsere eigenen Geheimdienste sich in der Hinsicht auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben, um das vorsichtig auszudrücken. Ich hätte damals ein Aussetzen der Verhandlungen verhandlungstechnisch geschickter gefunden, ja. In Datenschutzfragen schlägt den USA seitdem immer noch großes Misstrauen entgegen – nicht nur bei TTIP, sondern bei allen transatlantischen Angelegenheiten.

Handelskommissarin Malmström und auch Bundeskanzlerin Merkel sprechen ja von einem Abschluss noch dieses Jahr. Bisher sieht es allerdings so aus, als würden sich die Verhandlungen länger hinziehen, insbesondere die US-amerikanische Seite zeigt in einigen für uns wichtigen Bereichen – wie etwa der öffentlichen Beschaffung, der Landwirtschaft oder der geographischen Herkunftsbezeichnungen – wenig Entgegenkommen. Gleichzeitig läuft schon jetzt langsam der US-Präsidentschaftswahlkampf an und währenddessen wird ganz sicher kein internationales Abkommen abgeschlossen. Ich gehe deswegen eher davon aus, dass sich das Verfahren noch länger ziehen wird, falls jetzt kein bahnbrechender Durchbruch gelingt. Und das wäre auch gut so: Gründlichkeit muss hier in jedem Falle vor Schnelligkeit stehen!

Bundeskanzlerin Merkel meinte, TTIP »kann Geschichte schreiben« und »wir würden einen Riesenfehler machen, wenn wir das blockieren«. Was passiert, wenn die TTIP-Verhandlungen scheitern?

Claudia Tausend: Das kommt darauf an. Scheitert TTIP bereits auf der Verhandlungsebene, wäre das schon ein großer Rückschritt für die transatlantischen Beziehungen. Die Aussage wäre dann ja: Wenn sich nicht mal mehr die USA und Europa auf gemeinsame Handelsregeln einigen können, mit wem können wir das dann?

Scheitert TTIP in den Parlamenten, würde das in Europa wohl auf die Kommission zurückfallen. Sie muss ja die Kritik und Bedenken aus den nationalen Parlamenten bereits im Vorfeld aufnehmen und in das Abkommen verhandeln. Schafft sie das nicht, würde die Kommission wohl einen gewissen Vertrauensverlust erleiden.

Das wäre aber alles verkraftbar. Deshalb ist meine Position: Wir versuchen jetzt, uns aktiv in die Verhandlungen einzubringen und unsere Positionen in das Abkommen zu bekommen. Wenn TTIP dann irgendwann fertig ist, werden wir es uns sehr genau anschauen. Wenn es ein vernünftiges Abkommen ist, stimmen wir zu, und wenn es ein schlechtes Abkommen ist, lehnen wir ab.

… und dann ist da noch CETA

Auch mit Kanada verhandelt die EU über ein Freihandelsabkommen. CETA heißt das Vertragswerk, über das Attac München am Montag, 29. Februar, ab 19.30 Uhr im EineWeltHaus, Schwanthalerstraße 80, informiert. Als Referenten sprechen die Gymnasiallehrerin Sabine Köhler und der Sozialwissenschaftler Michael Köhler. Eintritt frei, Spende willkommen.

Wir sind dabei

Bundesweite Berichterstattung: Im Februar erklären die im BVDA (Bundesverband Deutscher Anzeigenblätter) zusammenarbeitenden Verlage ihren Lesern die TTIP-Debatte. Im BVDA sind 216 Verlage mit über 860 Titeln vertreten, darunter die Münchner Wochenanzeiger mit Münchener Nord-Rundschau, Moosacher Anzeiger, Schwabinger Seiten, Münchner Zentrum, Bogenhausener Anzeige, Haidhausener Anzeige, Lankreis-Anzeiger, Kurier Ebersberg, Kurier Erding und Samstagsblatt.

Artikel vom 25.02.2016
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