Der Sinn der Geschichte

Dr. Mirjam Zadoff über das NS-Dokumentationszentrum

Dr. Mirjam Zadoff: »Ein Verantwortungs- oder gar Schuld­gefühl kann man nicht verordnen.«	Foto: © Orla Connolly

Dr. Mirjam Zadoff: »Ein Verantwortungs- oder gar Schuld­gefühl kann man nicht verordnen.« Foto: © Orla Connolly

München · Seit knapp drei Wochen hat das NS-Dokumentationszentrum in der Brienner Straße eine neue Direktorin. Die Historikerin Dr. Mirjam Zadoff hat das Amt von Gründungsdirektor Winfried Nerdinger übernommen (wir berichteten). Mirjam Zadoff hat uns einige Fragen beantwortet.

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Wochenblatt: Warum brauchen wir das NS-Dokumentationszentrum?

Dr. Mirjam Zadoff: Dafür gibt es sehr viele Gründe über die man ausführlich sprechen könnte. Um es ganz grundsätzlich zu beantworten: Der Holocaust ist ein unauslöschbarer Teil unserer Geschichte und hat globale Bedeutung. Was Deutschland betrifft, ist die NS-Vergangenheit zu einem zentralen Bestandteil unserer Identität geworden, daran führt kein Weg vorbei. Je länger diese Geschichte zurückliegt, umso wichtiger wird es, der Erinnerung daran Raum zu geben und ihr gesellschaftliche und politische Bedeutung zu verleihen. Das NS-Dokumentationszentrum ist ein Ort – neben vielen anderen, wie etwa den Schulen –, an dem diese Auseinandersetzung stattfindet. Dieser Erinnerungsprozess ist nie abgeschlossen, er ist dynamisch und verändert sich. Es ist unsere Aufgabe, hier neue kreative Ansätze zu finden.

Seit einigen Jahren sind weltweit verstärkt nationalistische Tendenzen zu verfolgen. In mehreren Ländern in Europa und Amerika wird mit Abgrenzung und Ausgrenzung Innen- und Außenpolitik betrieben. Für wie gefährlich halten Sie diese Entwicklung?

Dr. Mirjam Zadoff: Diese Entwicklungen sind sehr bedenklich. Natürlich haben wir aus historischer Sicht heute eine völlig andere Situation als damals in den 1920er und 1930er Jahren. Trotzdem beschäftigen wir uns heute wieder mit ähnlichen Problemen und das zeigt, wie wichtig es ist, sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen: Wir erleben in verschiedenen Ländern einen neuen, langsam ins Extreme abgleitenden Nationalismus. Rassismus und Antisemitismus sind wieder auf dem Vormarsch. In einigen Ländern wird die Pressefreiheit massiv eingeschränkt, regierungskritische Stimmen werden unterdrückt. Das sind Themen der Gegenwart, mit denen wir uns aktiv auseinandersetzen müssen. Und der historische Kontext ist dabei sehr wichtig und hilft uns bei der Beurteilung und bei der Suche nach Lösungen.

Wir leben in der Zeit, in der die letzten Menschen sterben werden, die den Zweiten Weltkrieg noch selbst erlebt haben. Kann man das als Zäsur in der Menschheitsgeschichte bezeichnen?

Dr. Mirjam Zadoff: Ja, in gewissem Sinne ist das eine Zäsur. Unsere Aufgabe ist es, uns Gedanken zu machen, wie wir sie überbrücken können. Je länger die NS-Zeit zurückliegt und aus der unmittelbaren Erinnerung verschwindet, umso wichtiger wird es, sich über die Wege und Formen der Erinnerungsarbeit Gedanken zu machen. Hier wollen wir neue Anknüpfungspunkte und Formate finden, um junge Leute und andere gesellschaftliche Gruppen ganz gezielt anzusprechen. Historische Themen werden für Menschen immer dann interessant, wenn sie etwas mit ihnen und ihrem Leben zu tun haben. Das möchten wir uns zunutze machen und Menschen ins Haus holen, die sonst von alleine nicht unbedingt zu uns kommen würden.

Zuletzt wurde verstärkt ein »Ende des Schuldkults« gefordert, auch von Politikern, die im Bundestag sitzen. Was bedeutet das für die ohnehin bereits sehr gespaltene Gesellschaft in diesem Land?

Dr. Mirjam Zadoff: Ich denke, wir müssen aufpassen, dass die Spaltung der Gesellschaft hier in Deutschland nicht noch größer wird. Sonst geht es uns so wie den Menschen in den USA, wo bestimmte Lager überhaupt nicht mehr miteinander sprechen und Themen einfach nicht mehr diskutiert werden. Aber ein Verantwortungs- oder gar Schuldgefühl kann man nicht verordnen und das ist auch gar nicht die Aufgabe der Erinnerungskultur. Wir müssen die globale Bedeutung, die der Holocaust für die Menschheit hat, deutlich machen. Oft betonen wir das Negative an der Geschichte, das Scheitern, das Unbegreifliche und Grauenhafte daran. Aber aus der Diktatur ist auch unsere liberale Demokratie entstanden, aus der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs sind demokratische Errungenschaften wie etwa die Erklärung der Menschenrechte hervorgegangen. Das müssen wir herausarbeiten und den sinnlos erscheinenden, schrecklichen Ereignissen der Geschichte somit einen Sinn verleihen.

Wie möchten Sie die Arbeit im NS-Dokumentationszentrum voran und in die Öffentlichkeit bringen?

Dr. Mirjam Zadoff: Das Haus hat sich in den drei Jahren seit seiner Eröffnung sehr gut etabliert. In die Dauerausstellung ist sehr viel Wissen eingeflossen. Sie bietet uns vielfältige Anknüpfungspunkte. Hier möchte ich mit meinem Team gerne einzelne Aspekte stärker herausarbeiten und zeitweise Themenschwerpunkte setzen, beispielsweise im Lernforum oder im Foyer. Zu dem sachlichen und rationalen Ansatz der Dauerausstellung möchte ich in den Sonderausstellungen einen Gegensatz bieten, beispielsweise Kunst zum Thema machen, in einer Ästhetik, die junge Leute anspricht, mit medialen und interaktiven Elementen. Neben Kindern und Jugendlichen sehe ich auch die Menschen mit Migrationshintergrund als wichtige Zielgruppe für uns. An deren Erfahrungen, sei es mit Diskriminierung und Ausgrenzung oder auch mit Flucht, Vertreibung und Diktatur, möchte ich anknüpfen und diese in unsere Arbeit integrieren.
Von Carsten Clever-Rott

Artikel vom 19.05.2018
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