Hose und Haare kurz, eine Schultüte fest umklammert und voller Stolz in die Kamera blickend: So zeigt ein Schwarz-Weiß-Foto aus den 30er Jahren meinen Vater am Tag seiner Einschulung. Damals begann der Krieg. Und für den kleinen Jungen folgten Jahre der Ungewissheit, ob sein Vater jemals wieder zurückkommen wird – eine furchtbare Frage für einen Sechsjährigen.
Das Furchtbarste, das mir später im gleichen Alter passieren konnte, war das Kehren der väterlichen Schreinerei am Samstagnachmittag. Für einen Sechsjährigen eine ebenso lästige wie nicht verstehbare Pflichtübung - schließlich würde am Montagmorgen wieder gehobelt und gebohrt und gesägt werden und der Boden binnen weniger Minuten nicht weniger übersät mit Spänen sein als zuvor. Meine Großmutter besaß jedoch nicht nur die erstaunliche Fähigkeit, jeden noch so kleinen übersehenen Spänekrümel aufzuspüren, sondern beherzigte auch eine Reihe unumstößlicher Regeln, die ihr Leben strukturierten. Dass ein Werkstattboden am Samstagabend blitzblank gefegt zu sein hatte, war eine davon.
Haare kurz, eine Schultüte fest umklammert und voller Stolz in die Kamera blickend: So schaue ich auf meinem eigenen Einschulungsfoto in die Kamera. Es wurde fast an derselben Stelle neben dem Mäuerchen vor unserer Hofeinfahrt gemacht wie Jahrzehnte zuvor das meines Vaters. Aber meine Kinderwelt war inzwischen eine ganz andere als die meines Vaters gewesen war. Die Welt hatte nicht nur auf den Fotos ihren Schwarz-Weiß-Kokon abgestreift. Mir standen ganz neue Wege offen. Der Blick zum Horizont schien viel weiter möglich zu sein.
Die Unterschiede zwischen den Welten, in denen wir, unsere Eltern und unsere Großeltern groß wurden, sind gewaltig. In sich ständig noch weiter beschleunigendem Takt ändern sich Lebensumfelder, technische Möglichkeiten, soziale Einflüsse und Gewohnheiten. Die Ausgangsbedingungen und in der Folge die Lebenserfahrungen der Generationen lagen selten so weit auseinander wie heute: Unsere Kinder werden nochmals in eine vollständig anders gestaltete Welt hineingeboren als wir.
Und doch sind die Generationen untrennbar miteinander verwoben: „Wir bauen an dem weiter, was die Altvorderen angefangen haben und geben selbst wieder unser Wissen, unsere Erfahrung, unsere Lebensleistung weiter an die Jungen”, sagt der frühere Andechser Prior Anselm Bilgri. „Niemand muss bei Null anfangen und nach keinem kommt - aller Wahrscheinlichkeit nach - die Sintflut.”
Meine Großmutter bestand in der väterlichen Werkstatt darauf, dass eine Aufgabe auch dann bewältigt werden muss, wenn man dazu gerade nicht die allergrößte Lust hat - einfach weil sie an der Zeit ist. Für meinen Beruf als Redakteur, dessen Arbeitsrhythmus selten nach Lust und Laune, sondern nach unverrückbaren Redaktionsschluss- und Erscheinungsterminen ausgerichtet ist, hat sie mir damit eine (ohne das Wort zu kennen) Schlüsselkompetenz vermittelt. Ohne den Zusammenhalt der Generationen (nichts anderes war die gelassene Strenge meiner Großmutter) ist die Zukunft nicht zu gestalten.
Alle zusammen haben heute - für den weit überwiegenden Teil der Bevölkerung - eine zuvor kaum denkbare Lebensqualität erreicht. Dennoch wächst die Unsicherheit vieler Menschen. Dennoch scheint dieser hohe Standard und die soziale wie politische Stabilität an vielen Stellen in Frage gestellt zu sein. Ausgerechnet in einer Welt, in der nahezu alles machbar scheint, blicken wir orientierungslos in die Zukunft. In dieser Lage finden sich alle Generationen mit ihren sich oft widersprechenden Erfahrungen und Perspektiven, Ängsten und Hoffnungen wieder.
Am Anfang des Jahres haben die Münchner Wochenanzeiger diesen Ängsten und Hoffnungen der verschiedenen Generationen viel Platz gewidmet. Wir haben gefragt, wo sich Jung und Alt unterscheiden, wo sie Gegensätze spüren und wo sie gemeinsam denken. Viele Menschen haben sich an diesen Ausgaben mit ihren Ansichten beteiligt. „Damit gelang etwas, was lokale Medien wie Anzeigenblätter leisten sollten: die Menschen, die in getrennten Welten leben, über die Zeitung miteinander ins Gespräch zu bringen”, beurteilte Prof. Michael Haller von der Universität Leipzig unser „Generationen-Projekt”, das der Bundesverband Deutscher Anzeigenblätter (BVDA) mit seinem Journalistenpreis „Durchblick” auszeichnete.
Anzeigenblätter spielen nicht nur eine Rolle in der lokalen Berichterstattung, sondern bieten auch ein Forum, in dem sich Leser in gesellschaftspolitische und soziale Debatten einbringen können - zum Beispiel, wenn es um den „Generationenkonflikt” geht, der vor dem Hintergrund des demograhpischen Wandels mit all seinen Folgen heraufbeschworen wird. Zusammen mit Bachelor-Studentinnen des Instituts für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung an der LMU haben wir daher unser „Generationenprojekt” fortgeführt: Lisa Hofer, Rebecca Strohmeier, Stefanie Ritter, Franziska Heigl, Nadine Noppinger, Janina Rüb, Daniella Ferkova, Stella Nachtigall, Martha Stanchi, Franziska Kiefl, Leonie Hinderhofer lernten im gerade zu Ende gehenden Sommersemester die Praxis des Journalismus kennen. Sie sind für die „Jung & Alt”-Beiträge in dieser Ausgabe (Seite 14 / 15) verantwortlich. Ihnen oblag die Themenfindung, die Auswahl von Gesprächspartnern, die redaktionelle Umsetzung und Gestaltung dieser Seiten.
Von solchen Projekten profitieren alle Generationen - genau so sollen Alt und Jung miteinander umgehen. Denn wo die einen Erfahrungen einbringen, öffnen die anderen mit Neugier und Hinterfragen neue Wege.
Jeder Vater, jede Mutter kennt das, wenn Kinder beginnen, erwachsen zu werden - dann ist das Hinterfragen von allem und jedem vor allem eins: anstrengend. „Es liegt in der Natur der Jugendlichen, sich von den vorherigen Generationen abzusetzen und sich 'neu erfinden' zu wollen”, sagt dazu Familientherapeutin Nele Kreuzer.Diese Chance sollten die Alten den Jungen lassen, denn „die Jugend ist heute nicht besser oder schlechter als früher, nur hat jede Generation ihre speziellen Herausforderungen”, so Kreuzer weiter. Ihr Rat: „Ich selbst finde es das Wichtigste, in einem nahen Kontakt zum eigenen Kind zu bleiben, zu verstehen, was es bewegt.” Und das gilt nicht nur in der Familie, sondern auch im Verhältnis der Generationen zueinandern.
Zwölf Themen haben die Studentinnen für unsere aktuellen Ausgaben aufgegriffen und die Blickwinkel der verschiedenen Generationen dazu eingebunden. So können Alt und Jung verstehen, was einander bewegt.
Wenn ich heute in einem Baumarkt bin, gehe ich manchmal ganz nach hinten zum Holzzuschnitt - wo es nach frisch gesägtem Holz und frischen Spänen riecht. Für einen Moment bringt mich dieser Geruch in die Werkstatt meines Vaters zurück - in meine Kindheit, zu dem Fundament, auf dem ich stehe.