Bild
Bild
Veröffentlicht am 06.05.2016 10:19

Erfahrung trumpft auf


Johannes Beetz
Johannes Beetz
Chefredakteur
seit 1999 bei der Gruppe der Münchner Wochenanzeiger
Mitarbeit im Arbeitskreis Redaktion des Bundesverbands kostenloser Wochenzeitungen (BVDA)
Gewinner des Dietrich-Oppenberg-Medienpreises 2017 (Stiftung Lesen)
Foto: sko
Foto: sko
Foto: sko
Foto: sko
Foto: sko

„Zwischen zwei Buchdeckeln liegt oft eine ganze Welt – in die man jederzeit eintauchen kann”, sagt Ulrike Mascher. Nie gab es so viele einladende Welten wie heutzutage: Nachdem Johannes Gutenberg gegen 1450 den Buchdruck in Europa erfunden hatte, wurden etwa 600 Bücher im Jahr gedruckt. Geschriebenes wurde plötzlich vielen Menschen zugänglich; neue Gedanken konnten sich rasch und weit verbreiten. Heute kommen allein in Deutschland jedes Jahr etwa 80.000 Neuerscheinungen auf den Markt - 80.000 neue Welten, die jedermann zugänglich sind. Lesen ist die Wiege für einen kritischen und lebhaften Geist, es ist ein Schatz - und es kann viel Freude schenken.

Winfried Bürzle: „Ein großer Schatz ist uns geschenkt”

Ein feiner Tropfen Silvaner, Chardonnay oder Spätburgunder: was für ein Genuss, was für ein Geschenk der Natur! Damit wir diesen Genuss erfahren können, hat der Winzer akribische Arbeit im Weinberg geleistet. Am Ende hat er die Weintrauben geerntet, er hat sie „gelesen“.

Weinlese haben die Menschen betrieben, lange bevor sie den ersten Buchstaben, das erste Wort gelesen haben. Aber Vorgang und Resultat sind dabei durchaus vergleichbar. Auch aus einem guten Buch, einer schönen Erzählung, einem gescheiten Artikel ernten wir. Wir sammeln Buchstaben und Wörter auf und ein, wir „lesen“ sie, füllen unseren Geist und bereichern so unser Leben.

Vielleicht macht uns dieser kleine Vergleich erst so richtig deutlich, welch großer Schatz uns Menschen mit dem Lesen geschenkt wurde. Ich wünschte mir, dass wir diesen Schatz pflegen und hegen. Denn dass Lesen bildet, das ist unbestritten. Aber es bildet eben nicht nur den Intellekt. Es bildet auch das Herz, unser Gemüt, unsere Vorstellungskraft, unsere Phantasie.

Geschichten fesseln, nicht Fakten

Genau das geht in dieser phantasielosen Welt zwischen Twitter, Facebook und WhatsApp immer mehr verloren. Nicht, dass ich SMS, Tweeds, Selfies oder Videoclips verteufeln will. Verstehen wir sie als schöne Bereicherung, aber eben nicht als Ersatz. Sie dürfen nicht zu Lasten dessen gehen, was unsere Phantasie anregt: die Geschichten.

Immer weniger Menschen beherrschen heute die Kunst, über die früher jeder Großvater intuitiv verfügte: Geschichten erzählen. Als hauptberuflicher Radiomacher weiß ich, dass wir uns nur von Geschichten fesseln lassen, nicht von Fakten. Das „Kino im Kopf“ ist das große Ziel. Die Kunst, mit Worten Bilder entstehen zu lassen, ganz persönliche, keine vorgefertigten, wie es eben Fotos oder Videoclips sind.

Geschichten erzählen, vorlesen und dadurch zum selber Lesen animieren: Das sollten wir uns zur Aufgabe machen für unser Umfeld. Damit wir alle wieder erkennen, dass die Buchstaben und Wörter ein Geschenk sind. Eben genau wie der Wein und die Trauben. In diesem Sinne: „zum Wohl“, Du geschriebenes Wort, Du Satz, Du schöne Geschichte …

Ingrid Appel: „Lesen ist entscheidend für das Leben”

Lesen ist für mich ein Grundbedürfnis! Ein Tag ohne Lesen ist für mich ein verlorener!

Zum einen bedeutet Lesen natürlich Information. Ich muss wissen, was in meinem Umfeld und in der Welt passiert. Heute erhalten wir ja Informationen aus den entlegensten Orten der ganzen Welt. Auch kann man die Hintergrundinformationen der Kurznachrichten des Fernsehens nachlesen. Es gibt Bücher über alle Themen des persönlichen Interesses, man kann sie in den zahlreichen städtischen Büchereien ausleihen, man muss sie nicht einmal kaufen.

Das Stöbern in den Buchhandlungen macht riesigen Spaß, dort gibt es die Neuerscheinungen aus erster Hand, auf die man schon so neugierig ist.

Wichtig für die Integration

Wichtig ist beim Lesen die Sprache. Senioren haben in unserer Nachbarschaft eine Gruppe gebildet und gehen in die nahegelegene Schule, um mit den Grund- und Mittelschülern (diese kommen aus über 30 Nationen) zu lesen und dabei das Geschriebene zu erklären. Das Erlernen der Bedeutung des geschriebenen Wortes ist so wichtig für die Integration in unsere Kultur und die Kommunikation mit den Mitmenschen. Bei falschem Gebrauch des Wortes können unangenehme Missverständnisse entstehen. Wenn das Verständnis des Gelesenen nicht da ist, haben Schüler Schwierigkeiten, Aufgaben zu lösen, wenn sie deren Sinn nicht verstehen und werden fälschlicherweise bei Prüfungen falsch beurteilt. Das bedeutet letztlich auch, keinen soliden Ausbildungs-Arbeitsplatz zu bekommen. Lesen ist Bildung, Fortbildung und damit entscheidend für das künftige Leben.

Dies betrifft nicht nur die Schüler und die Erwachsenen, die aus anderen Ländern die zu uns kommen, sondern leider auch viele Deutsche. Das Interesse am Lesen wird vordringlich in der Familie gelegt. In vielen Familien wird leider nicht mehr gelesen. Oft gibt es statt einer „Gute-Nacht-Geschichte” nur eine auf einer CD.

north