Veröffentlicht am 22.12.2014 16:10

„Die Kinder helfen sich gegenseitig”

Lieben das Unterrichten in den Übergangsklassen, wünschen sich aber mehr Lernmittel: Heidi Zeilinger und Christian Rinderspacher. (Foto: tab)
Lieben das Unterrichten in den Übergangsklassen, wünschen sich aber mehr Lernmittel: Heidi Zeilinger und Christian Rinderspacher. (Foto: tab)
Lieben das Unterrichten in den Übergangsklassen, wünschen sich aber mehr Lernmittel: Heidi Zeilinger und Christian Rinderspacher. (Foto: tab)
Lieben das Unterrichten in den Übergangsklassen, wünschen sich aber mehr Lernmittel: Heidi Zeilinger und Christian Rinderspacher. (Foto: tab)
Lieben das Unterrichten in den Übergangsklassen, wünschen sich aber mehr Lernmittel: Heidi Zeilinger und Christian Rinderspacher. (Foto: tab)

Sie versucht die Arbeitsblätter zu ordnen, 46 Seiten. Aber das ist schwierig, denn sie kann die Zahlen noch nicht richtig. Alima stammt aus Syrien. Vor einigen Wochen ist das kleine Mädchen mit seinem Bruder Samir (Namen geändert) und seinen Eltern in München angekommen. Wenn man die Geschwister so nebeneinander sieht, könnte man sie für Grundschüler halten. „Laut Pass ist das Mädchen aber 13 Jahre, der Junge 14 Jahre alt”, sagt Heidi Zeilinger, Lehrerin an der Mittelschule Sambergerstraße. Jetzt besuchen Alima und Samir die so genannte Übergangsklasse Ü8 in dieser Schule.

Lehrerin mit viel Herzblut

Heidi Zeilinger ist ihre Lehrerin. Mit viel Herzblut und Engagement. 20 Kinder hat Heidi Zeilinger in ihrer Klasse. „Seit diesem Schuljahr dürfen in einer Übergangsklasse nicht mehr als 20 Schüler sein. Zum Glück”, sagt die Lehrerin. Eigentlich kommen Mädchen und Buben bis zwölf Jahre in die Ü5, die an anderen Schulen angeboten werden. Kinder ab 13 Jahre besuchen die Ü8. Hier lernen Schüler gemeinsam, die noch nicht über ausreichend oder gar keine Deutschkenntnisse verfügen. So kommt es, dass bei Heidi Zeilinger auch 17-Jährige an den Schulbänken sitzen.

Übergangsklassen werden laut bayerischem Bildungsministerium für „Schüler angeboten, die als Quereinsteiger in das bayerische Schulsystem eintreten und nur rudimentäre oder gar keine Deutschkenntnisse haben.”

„Sie sind Analphabeten”

Was hier nicht berücksichtigt ist: Einige der Kinder, die in Bayern ankommen, verfügen nicht nur über keinerlei Deutschkenntnisse. „Sie sind Analphabeten”, bringt es Zeilinger auf den Punkt. „Sie müssen erst einmal lesen und schreiben lernen.” Alima gehört zu diesen Kindern. Auf ihren Arbeitsblättern sind Buchstaben und Silbenbögen vorgedruckt. Mit ähnlichem Material bekommen Grundschüler der ersten Klasse das Lesen und Schreiben beigebracht. Das Material müssen sich die Lehrer überwiegend selbst zusammenstellen. Denn: es gibt, außer für das Fach Deutsch, keine Schulbücher oder Arbeitshefte für die Übergangsklassen. „Das ist ein unglaublicher Mehraufwand. Es steckt viel mehr Arbeit dahinter als für eine Regelklasse. Die Kinder kommen mit einem so unterschiedlichen Bildungsniveau hier an”, sagt Zeilinger. Irgendwie muss sie diesen Spagat hinbekommen, dieses Wandeln zwischen Kindern, die erst einmal die Buchstaben lernen müssen, und jenen, die bereits wissen, dass „die Eltern meines Vaters die Schwiegereltern meiner Mutter sind”. Denn das lernen sie gerade in der Ü8. Stammbäume und Familienverhältnisse sind ihr Thema. „Es ist hier wie eine kleine Gesamtschule”, beschreibt Zeilinger die Situation. Vom sozialen Aspekt sei die Klasse eine gute Erfahrung. „Die Kinder helfen sich gegenseitig.”

„Neben ihnen sind Menschen ertrunken”

Manchmal bekommt Zeilinger etwas von den Geschichten ihrer Schüler mit, erfährt, mit wem sie in Deutschland leben, möglicherweise auch, welche Flucht sie hinter sich haben. In ihrer Klasse sitzen Jungs aus Afrika. Sie kommen unter anderem aus Somalia und Eritrea und ihnen ist nicht nur gemein, dass sie kein Deutsch sprechen. Sie eint auch, dass sie alleine hier gestrandet sind. Ohne Eltern. Ohne Geschwister. „Es sind unbegleitete minderjährige Flüchtlinge”, sagt Zeilinger. Bootsflüchtlinge seien darunter, welche, die neben sich Menschen ertrinken sahen. Und gerade deshalb möchte die engagierte Lehrerin vor allem eines bieten: Normalität. „Man muss ja bei all dem Tragischen auch sehen, dass sie hier eine große Chance bekommen”, sagt Zeilinger.

„Der überholt seine Mitschüler leicht”

Normalität - das möchte auch Christian Rinderspacher bieten. Wenn er von „seiner Ü9” spricht, dann blitzen seine Augen. „Die Schüler sind einfach toll. Sie machen super im Unterricht mit. Sie wissen es einfach zu schätzen, dass sie hier zur Schule gehen können”, schwärmt der Lehrer. Im vergangenen Schuljahr unterrichtete er die Jugendlichen in der Ü8, brachte ihnen Deutsch so gut bei, dass sie sie inzwischen leichte Texte analysieren und Dialoge sprechen können. Ziel ist es, diese Schüler nach und nach in die Regelklassen zu integrieren. Rinderspacher ist zuversichtlich, dass die meisten das schaffen werden. „Ich habe einen Schüler in der Klasse, der hat ein Wissen in Mathe, da überholt er seine Mitschüler in der Regelklasse leicht”, sagt er.

Schulleiterin Ursula Neff ist gerade auf dem Weg in ihr Büro, als sie von zwei Schülern aufgehalten wird. Beide stammen aus Afrika. Der eine spricht schon ganz gut Deutsch, der andere ist erst vor wenigen Tagen in München angekommen und blickt Neff mit fragenden Augen an. „Sag ihm bitte, er soll sich hier kurz hinsetzen, ich komme gleich zu ihm”, bittet Neff den Schüler für sie zu übersetzen. „Wir haben an der Schule ein gutes Netz und können auch andere Schüler um Hilfe bitten, wenn es zum Beispiel um Verständigungsprobleme geht”, sagt sie. Die Kinder sollten sich in der Schule gut aufgehoben und verstanden fühlen. „Es sind Heimatlose, darum ist es so wichtig, dass die Mittelschule ihnen einen beschützten Raum bietet und sie hier eine Heimat finden”, betont Neff.

Panik beim Probealarm

Doch manchmal kann auch dieser beschützte Raum nicht alles auffangen. Neff erinnert sich an ein Mädchen, das bei einem Probealarm in der Schule völlig verängstigt das Weite suchte. Und Zeilinger hatte einen Schüler in der Klasse, der beim Aufschneiden von Rote Beete panisch reagierte, da ihn die Farbe an seinen Händen an Blut erinnerte. „Wir hatten das Thema Gemüse im Unterricht und haben dazu mehrere Gemüsesorten aufgeschnitten, darunter eben auch Rote Beete”, sagt Zeilinger. „Damit rechnet man überhaupt nicht.”

Was den jungen Flüchtlingen helfe, so Neff, seien die Kunststunden. „Wir haben eine Kunsttherapeutin, die regelmäßig mit den Kindern arbeitet”, sagt sie. Außerdem seien gemeinsame Projekte mit den Schülern aus den Relgelklassen wichtig. Zuletzt war das das Musical „Stella”, das sie zusammen aufführten (wir berichteten). Unterstützung erfährt die Schule dabei immer wieder vom Rotary Club München-Solln, sei es in finanzieller Hinsicht oder in Form von Bücherspenden.

„Wir brauchen unbedingt mehr Lernmittel”

Wenn sich Zeilinger etwas für ihre Übergangsklasse wünschen dürfte, dann dies: „Eine Assistenz, Alphabetisierungskurse und gezieltes Lernmaterial.” Das betont auch Christian Rinderspacher. „Wir brauchen unbedingt mehr Lernmittel.”

Alima hat inzwischen ihre Blätter fast geordnet. Eine junge Lehrerin hat ihr dabei geholfen. Jetzt kann sie loslegen, kann sich die lateinischen Buchstaben einprägen und wird bald die ersten Worte im Deutschen wissen. Heidi Zeilinger wird sich im Unterricht Zeit nehmen und mit ihr Schreiben üben. Das macht sie im so genannten Individualunterricht. „Da schaue ich, was jedes einzelne Kind lernen muss”, erklärt sie. Bei allen Hürden liebt Zeilinger das Unterrichten in der Übergangsklasse. „Ja, man muss es mögen”, sagt sie. „Und ich mag es wahnsinnig gern.”

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