„Die erste Community ist die Klasse”, weiß Werner Fiebig, Leiter des Gymnasiums Fürstenried. Und so kommt in den Schulen ein altes Problem auf einer ganz neuen Ebene zum Vorschein: das Mobbing im Internet bzw. in sozialen Netzwerken. Die Experten sind sich nicht einig, ob die Fallzahlen tatsächlich steigen oder ob die Mobbingfälle nur besser wahrgenommen werden. Unter anderem die gefühlte Anonymität im Web hat dem Phänomen indes neue Seiten gegeben: „Man beleidigt jemanden viel schneller”, glaubt Alexandra Köster, Schülerin am Gymnasium Fürstenried. Werner Fiebig hält die Anonymität für eine Ursache der schnellen Eskalation von verbalen Rangeleien: „Das nimmt plötzlich richtig krasse Formen an und es wird noch eine Schippe draufgelegt, weil das Gegegnüber fehlt”. Trennten sich früher auf dem Schulhof nach einer Beleidigung die Kontrahenten, gehe die Auseinandersetzung nun im Internet schrankenlos weiter.
Über die neuen Seiten eines alten Problems sprachen im Hirschgarten Manuela Beckmann (Kinderschutzbund Bayern), Hans-Jürgen Palme (Verein SIN - Studio im Netz), Werner Fiebig (Leiter Gymnasium Fürstenried) und seine Schüler Annina Eckrich, Alicia Plocher, Alexandra Köster und Julian Botti, die Landtagsabgeordneten Julika Sandt (Sprecherin der FDP u.a für Medien und Jugend) und Andreas Lorenz (CSU-Mitglied der Ausschüsse für Verfassung / Recht und für Innere Sicherheit) und Wochenanzeiger-Chefredeakteur Johannes Beetz.
„Mobbing hat durch das Medium Internet deutlich zugenommen”, so Fiebigs Einschätzung. Das beginne in der fünften Klasse: Die Schüler wissen exakt, wer in der Klasse sich hinter welchem Usernamen in den verschiedenen sozialen Netzwerken verbirgt. „Innerhalb dieser 30 Leute geht es in unglaublicher Art und Weise zu”, erzählt Fiebig. Besonders schlimm sei das „militante Zusammenrotten”, das unkontrolliert ablaufe: Werde ein Schüler auf dem Schulhof attackiert, bilde sich in der Regel auch eine Gruppe zu seiner Unterstützung. Dagegen stehe ein Schüler, der über das Internet gemobbt werde, plötzlich völlig alleine einer ganzen Falanx von Angreifern gegenüber. „Statt zwei Parteien zu haben, steht jetzt einer gegen 29. Das ist wie eine Lawine”, so Fiebig. Den erschreckenden Sprachstil, die uferlosen Beleidigungen, die Fiebig in sozialen Netzwerken feststellt, seien indes kein Phänomen junger Menschen, meint Hans-Jürgen Palme vom Verein SIN - Studio im Netz). „Bei Erwachsenen geht es schlimmer zu”, verweist Palme auf den Tonfall in deren Foren.
Das SIN in der Heiglhofstraße ist eine seit 1997 bundesweit agierende medienpädagogische Facheinrichtung. „Cyber Mobbing ist für uns ein wichtiges Thema”, erklärt Palme. In Schulen versucht der Verein über das Problem aufzuklären. Die Anonymität verschärft für Hans-Jürgen Palme das Mobbing-Problem im Internet: „Beim Mobbing in einer Klasse weiß jeder, wer angefangen hat. Aber viele Opfer von Cyber Mobbing wissen gar nicht, wer sie mobbt.” Auch die technischen Entwicklungen haben für eine Ausweitung des Mobbings gesorgt: „Heute gibt es mehr Möglichkeiten als früher”, so Palme, „ich kann mit dem Handy ein Foto machen und es sofort hochladen. Das ist völlig neu: Jeder kann selbst publizieren.” Dass Schüler ohne jede Kontrolle senden können, sei toll - aber auch eine ganz neue Herausforderung. Vielen fehle das Bewusstsein für den Umgang mit diesen neuen Möglichkeiten, ergänzte Julika Sandt und nannte als Beispiel die Verletzung von Urheber- bzw. Persönlichkeitsrechten: Nicht jeder wisse, dass man nicht einfach ein Foto eines Freundes ins Web stellen darf.
Dass Cyber Mobbing auch ganz neue Dimensionen für die Opfer haben kann, merkte MdL Andreas Lorenz an: Cyber Mobbing sei weit mehr als die „technische Version von Lästern” und könne Existenzen vernichten - zum Beispiel, wenn durch im Web verbreitete Verleumdungen einem Opfer Jobchancen genommen werden. Cyber Mobbing sei zwar kein juristischer Begriff, aber mit konkreten Straftaten verbunden: Nötigung, Beleidigung, Verleumdung. „Das geht bis zu ernsthaften Todesdrohungen”, so Lorenz. Seine Forderung: „Straftaten muss man verfolgen können!” Das sei eigentlich eine Selbstverständlichkeit, „aber ich bin mir nicht sicher, ob das jeder hier so unterschreiben würde”. Lorenz hält es für dringlich, die nötigen juristischen und technischen Voraussetzungen für eine sinnvolle Strafverfolgung zu schaffen, sei es mit internationalen Übereinkommen oder neuen Maßnahmen (Vorratsdatenspeicherung). Der Rechtsstaat müsse der technischen Weiterentwicklung folgen. „Da ist es bei uns aber noch weit hin”, kritisierte Lorenz. Noch schlimmer bewertet er ein „falsches Liberalitätsverständnis”, wenn das Bewusstsein für diese Lücke fehlt.
„Viele empfinden das Internet als rechtsfreien Raum”, bestätigte Werner Fiebig aus seiner Erfahrung. Wenn Jugendliche den Führerschein machen, halten sie sich an die Regeln, denn es drohen Sanktionen. Dieselben jungen Leute missachten aber in der virtuellen Welt bedenkenlos soziale und ethische Normen. In dieser Leichtfertigkeit sieht Andreas Lorenz ein Grundproblem: „Wahrscheinlich sind wir uns alle zu 100 Prozent einig, dass man die Medienkompetenz stärken muss”, meint er, „ aber man muss auch zur Kenntnis nehmen: Das Internet ist kein rechtsfreier Raum!”
Auch MdL Julika Sandt sprach sich dafür aus, Straftaten zu verfolgen - sieht darin aber nicht dieselbe Priorität wie Andreas Lorenz. „Verbote allein bringen uns nicht weiter”, meinte sie. „Die beste Prävention gegen Cyber Mobbing ist Wertebildung. Dazu gehört die Stärkung des Selbstbewusstseins der Schüler. Starke Persönlichkeiten haben es nicht nötig, Schwächere zu quälen, werden nicht zu Mitläufern und lassen sich nicht so leicht in eine Opferrolle drängen. Darüber hinaus setze ich mich seit Jahren dafür ein, dass in Bayerns Schulen der kritisch-kompetente Umgang mit Medien praktiziert wird. Und für den Fall, dass es dennoch zu Cyber Mobbing Attacken kommt, brauchen Schüler Ansprechpartner, die von ihren Mitschülern ernst genommen werden, zum Beispiel ältere Schüler.“
Cyber Mobbing sei weit verbreitet: „23 Prozent aller Jugendlichen kennen einen, der schon mal richtig fertiggemacht wurde”. Daher müsse man den Schülern klarmachen, welche Folgen Mobbing für die Opfer hat. Wie sind die Auswirkungen für den einzelnen? Das ist keine leichte Aufgabe: „Bei vielen ist doch der Wille gar nicht da, die Konsequenzen zu sehen”, sagte Alicia Plocher, Schülerin am Gymnasium Fürstenried, „die können den anderen nicht lassen, wie er ist: Das ist das Grundproblem!” Bei vielen Mobbern fehle jede Einsicht, was sie anderen antun. „Da bringen alle Strafen nichts.”
Manuela Beckmann vom Kinderschutzbund hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Sie spricht in Schulen mit den Kindern über Mobbing. „Die wissen, das es falsch ist”, schildert sie ihre Eindrücke von Fünft- oder Sechstklässler. „Die Kinder sagen oft: 'Ich bin noch keine 14, deswegen kann mir nichts passieren.'” Die präventive Arbeit des Kinderschutzbundes wird in den Schulen wenig nachgefragt. Die Medienpädagogen werden meist erst dann in die Klassen geholt, wenn Mobbingfälle bekannt werden, so Beckmann.
Andreas Lorenz sieht die Jugendliche in der Pflicht, auch selbst auf ihren Schutz zu achten: „Viele stellen zu viele Daten von sich ins Netz, sie machen damit ihre Schwachstellen frei zugänglich und die eigene Privatsphäre kaputt!” Wer ein Partyfoto hochlade, auf dem er betrunken zu sehen sei, lade geradezu zum Mobbing ein. Lorenz warnte vor einem leichtfertigen Umgang mit den eigenen Daten. Hans-Jürgen Palme sieht hier schon Fortschritte: „Die Schüler schützen ihre Privatsphäre inzwischen besser.”
Julika Sandt setzt auf Werteerziehung und Medienkompetenz: Wer ein Bild sehe, müsse hinterfragen können, ob das Gezeigte wahr sei. Auch für Hans-Jürgen Palme ist das eine wichtige Aufgabe: „Wie beurteilt man Information? Was stimmt, was nicht? Was ist wirklich wirklich?” Alle seien gefordert, Kindern dieses Hinterfragen beizubringen. „Da müssen wir noch mehr tun”, sagt Julika Sandt. Die Schüler stimmen ihr zu: Wer eine eigene Meinung hat, hinterfragt mehr, so Annina Eckrich. Genau das werde den Schülern in der Schule aber zwölf Jahre lang regelrecht „abtrainiert”, beklagt sie. Lehrer erklären wenig, sondern verlangen zu lernen und Stoff zu übernehmen. Ähnlich sei es in vielen Familien: „Viele bekommen von den Eltern die Einstellung mit: Die anderen sind minderwertig”, so Eckrich, „man merkt immer öfter: Menschen wollen nicht mehr selbst denken.” Wie bedenkenlos sich Jugendliche auf das verlassen, was ihnen vorgesetzt wird, beobachtet Werner Fiebig auch im Unterricht: „Selbst aufgeklärte Jugendliche zeigen diese Hörigkeit und verstehen nicht, dass sie Wikipedia nicht verwenden dürfen”.
Für Julika Sandt sind die Schulen der sinnvollste Ort, das Bewusstsein für den Wahrheitsgehalt von Medien zu schärfen und damit auch das Problem des Cyber Mobbings einzudämmen: „Wir erreichen die Schüler am besten über die Schulen. Hier muss flächendeckend etwas passieren!” Auch die Eltern müsse man anhalten, auf das zu achten, was ihre Kinder tun. Werner Fiebig warnte davor, die Möglichkeiten der Schule zu überschätzen. Das gelte auch für den Umgang mit den neuen Medien: „Wir leben in einer digitalen Steinzeit”, meinte er zur technischen Ausstattung der Schulen, „wie sollen wir da vernünftigen Unterricht geben?”