Die gebürtige Münchnerin Sylvia Aulinger-Bischof war jahrelang Lehrerin an einer Regelschule. Sie kritisiert in ihrem im September erschienenen Buch „Weckruf für eine menschlichere Schule”, dass Kinder, Eltern und Pädagogen in einem kopflastigen Bildungslabyrinth resigniert festsitzen. Sie will stattdessen gangbare Wege für eine menschengemäße Bildung zeigen, die unser Schulsystem grundlegend verändern könnten. Darüber sprach sie mit Johannes Beetz:
Mit der „menschlicheren Schule“, die sie anregen, fordern Sie eine „neue Strafkultur”. Sie kritisieren, dass Schüler mit „Macht- und Druckmitteln abgestraft und in ein gewünschtes Verhalten gezwungen“ werden. Das klingt nach Rohrstock und In-der-Ecke-Stehen.
Übertreiben Sie da nicht etwas?
Sylvia Aulinger-Bischof: „Übertreibung“ ist und zeigt ja immer die Haltung einer Einseitigkeit – gerade auf dieses einseitig kopflastige Ungleichgewicht, das unser Erziehungs- und Bildungssystem bis in jede kleinste Nische durchdringt, möchte ich aufmerksam machen. Der „Rohrstock“ wurde durch unsinnige und aus dem Kontext gerissene Strafen wie Verweise, Mitteilungen, Strafaufgaben, Nachsitzen, Schüler vor der Klasse bloßstellen usw. ersetzt und erzeugt bei den Betroffenen ein ähnliches Gefühl wie „gedemütigt“ in der Ecke stehen zu müssen.
Unter einer neuen Strafkultur verstehe ich aber, den Heranwachsenden dabei zu helfen, dass sie zum einen ein Bewusstsein, zum anderen Verantwortung für die Auswirkungen ihrer Handlungen entwickeln und übernehmen lernen. Dazu braucht es eine „fördernde Konsequenz“ und Pädagogen, die ein echtes Interesse an der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen aufbringen können.
Sie möchten Schülern (und Lehrern) vor allem die Freude an der Schule vermitteln. Aber auch Leistung kann Freude machen und Kinder lieben Wettstreit. Sich mit anderen vergleichen zu können, gibt Halt und hilft, die eigene Position zu bestimmen und sich selbst zu finden. Zeugnisse und Noten können nicht nur Angst, sondern auch stolz machen.
Verwehren wir vielen Kindern nicht diese Möglichkeit der Freude, wenn wir nur den Aspekt „Druck” berücksichtigen?
Sylvia Aulinger-Bischof: Grundsätzlich ist die Freude, die Welt wahrnehmen und verstehen zu können, d. h. das Streben nach Erkenntnis bei jedem Menschen fundamental vorhanden. Denken Sie nur an die unzählig interessierten Fragen kleiner Kinder und wie groß die freudig-wissbegierige Erwartung sich bei den Kindern bei der Einschulung in die erste Klasse steigert.
Leistung macht dann Freude, wenn ich mich als selbstwirksamen Gestalter bei der Bewältigung einer Aufgabe erlebe. Der Vergleich mit anderen hat ein „Holzbein“, denn Halt und Stolz erlebe ich ausschließlich dann, wenn ich besser als der andere bin.
Ein wirklich tragender Halt, die Freude am Ausprobieren, am Tun und der damit verbundene Stolz entstehen durch die Überwindung von Hürden und Schwierigkeiten, die sich mir in den Weg stellen. Dann entsteht ein Vergleich oder Wettstreit mit sich selbst, den ich für den einzig gesunden halte. Anstatt Druck, welcher Schamgefühle und Versagensängste schürt, auszuüben, sollte dies durch interessierte Unterstützung und Hilfe bei der Überwindung solcher Hürden und Schwierigkeiten ersetzt werden.
Auf der anderen Seite gibt es Kinder, die rutschen durch: Im Corona-Lockdown zum Beispiel konnten sogar die Realschulen ein Viertel ihrer Schüler nicht mehr erreichen.
Wäre da nicht Druck und Strafe - oder nennen wir es Konsequenzen und verbindlicher Rahmen - wichtig? Nicht um zu ahnden, sondern um Halt zu geben?
Sylvia Aulinger-Bischof: Eine „fördernde Konsequenz“ unterscheidet sich maßgeblich von „Macht, Druck und Strafe“, weil sie ein „in Beziehung treten“ mit den Kindern und Jugendlichen voraussetzt. Das „Nicht mehr erreichen können“ vieler Schüler zeigt nicht nur das organisatorische Chaos aufgrund einer vorher nie dagewesenen Herausforderung des Lockdown-bedingten Distanzunterrichts, sondern spiegelt auch die Corona-unabhängige Beziehungslosigkeit zwischen Lehrern und Schülern wider.
Meine über 20-jährige Berufserfahrung als Lehrerin bestärkt mich leider darin, dass ein Großteil der Lehrer entweder nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, warmes Interesse für die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen aufzubringen.
Lehrstoff wird stur vorgetragen, ohne die Schüler im Einzelnen wahrzunehmen. Dabei ist gerade dieses „In-Beziehung-treten“ mit den Kindern und Jugendlichen die Grundvoraussetzung für Vertrauen, Verbindlichkeit und somit ein tragender und haltgebender Rahmen.
Sie brechen eine Lanze für die musischen Fächer und warnen, dass gerade „eine Generation 'willensschwach' herangebildet wird”. Sie kritisieren die Kopflastigkeit durch stures Auswendiglernen und meinen, dass Seele und der Wille der Kinder und Jugendlichen übergangen werden. Auswendiglernen ist indes ein wichtiges Werkzeug - das ABC, das Einmaleins oder Verkehrsregeln lernt man so, also Dinge, die man nicht in jeder Situation neu interpretieren oder hinterfragen sollte. Beim Gedichtelernen geht es ja auch nicht zuvodererst um das Behalten von Text, sondern um das Schaffen von Strukturen, auf denen andere „Skills” leichter aufgebauen können.
Wäre beides nicht gerade in einer Zeit der permanenten digitalen Reizüberflutung, in der die Aufmerksamkeitsspanne des Durchschnittsmenschen sogar noch unter das Niveau von Goldfischen abgefallen ist, von Vorteil?
Sylvia Aulinger-Bischof: Selbstverständlich will ich das „Auswendiglernen“ nicht grundsätzlich verteufeln – alles hat seinen Platz und destruktive Wirkung haben Dinge, Gewohnheiten etc. immer dann, wenn sie sich am „falschen Platz“ befinden oder in eine Einseitigkeit manifestiert haben.
Der Mensch verfügt über drei Seelenkräfte: Denken, Fühlen und Wollen. Beim Auswendiglernen werden lediglich die Kopfkräfte beansprucht, wobei das Gemüt (Fühlen) und der selbstaktive Wille gar nicht angesprochen werden. Das Gemüt und der Wille verkümmern aber, wenn sie nicht angeregt werden. Eine Schülerin im Abschlussjahr beschrieb dies sehr treffend, indem sie schilderte, dass sie sich die ganze Schulzeit über vorkam wie ein Tonbandgerät, das Informationsstoff abspeichern und wortgetreu abspulen müsse, um es dann wieder zu löschen, und sie sich dabei vorkäme wie eine Maschine.
Tausende von Kindern werden Jahr für Jahr auf diese Weise beschult. Die jungen Menschen werden auf diese Art lediglich auf ihr Denken und Funktionieren reduziert und somit in ihrem eigentlichen Menschsein regelrecht korrumpiert. Wenn aber die Kinder nicht auch im Gemüt und im Willensbereich genährt werden, entstehen degenerative Einseitigkeiten.
Die musischen Fächer, welche leider immer mehr an den Schulen gekürzt oder teilweise sogar zugunsten der sogenannten Wissensfächer gestrichen werden, können hier einen dringend nötigen und heilsamen Ausgleich schaffen, weil sie intensiv alle drei Seelenkräfte ansprechen. Künstlerisches Schaffen fordert den ganzen Menschen und wirkt daher einerseits als Prophylaxe andererseits als Gegengewicht für den weit verbreiteten Mangel an Aufmerksamkeit und Konzentrationskraft.
Ist Mathe nicht auch ein musisches Fach? Das Lösen einer Geometrie-Aufgabe fordert die Kreativität heraus und im Wesen der Primzahlen oder der imaginäre Zahlen liegt unbestreitbar viel Poesie.
Sylvia Aulinger-Bischof: Schön, dass Sie dies erwähnen. Nur glaube ich, dass sehr wenige Menschen in ihrer Schulzeit poetisch-künstlerisch an das Fach Mathe herangeführt wurden. Dabei ließe sich tatsächlich ein künstlerisch-poetischer Zugang finden. Ich denke da an den Künstler Franz Xaver Lutz, dem ein Brückenschlag zwischen Kunst und Mathematik auf beeindruckende Weise gelungen ist. Seine Bilder wechseln zwischen der blumigen Beschreibung auf poetisch-künstlerischer Ebene und der Präzision im Ausdruck, die der Mathematik zugrunde liegt. Dabei könnte ein künstlerischer Weg zu diesem häufig ungeliebten Fach einen völlig neuen, begeisternden Zugang eröffnen.
Ich wage sogar zu behaupten, dass man sich jedem Fach auf kreativ-gestalterische Art nähern kann, die den ganzen Menschen zu erreichen vermag – ein Weg, der die einseitige Überbeanspruchung der Kopfkräfte heilsam ausgleichen könnte.
Sie verlangen von Pädagogen, „sich auf individuelle Prozesse einzulassen, auf Unvorhergesehenes und Neues zu antworten”. Lehrer müssen das ja nicht nur wollen, sondern auch können. Viele Lehrer sind engagierte Begleiter ihrer Schüler, doch es fehlt oft an Ausstattung, an Zeit … und eben auch an Lehrern.
Müsste man nicht zuerst eine ganze Reihe von „technischen” Lücken füllen, ehe man an neue pädagogische Konzepte denkt?
Sylvia Aulinger-Bischof: Unbestritten gibt es für Lehrer aufgrund des straffen Lehrplans, der jährlich zunehmenden Verwaltungsarbeiten, verbunden mit zahlreichen Konferenzen, Unterrichtsvorbereitungen, Korrekturen, Elterngesprächen usw. viel zu tun. Auch Lehrer tragen die Bürde, Anweisungen „von oben“ überwiegend fremdbestimmt ausführen zu müssen. Meiner Meinung helfen da weder eine bessere technische Ausstattung, noch blutleere pädagogische Konzepte, die nur in den Köpfen oder auf Papier enden – davon haben wir genug!
Vielmehr geht es mir um die „innere Haltung von Pädagogen gegenüber Kindern und Jugendlichen“, welche völlig unabhängig von Zeit und fehlender Ausstattung ist. Diese „innere Haltung“ impliziert, dass ich innerlich beweglich mit gesteigerter Aufmerksamkeit offen gegenüber den Fragen der Heranwachsenden bin. Dann kann Lebendigkeit an die Stelle von Bequemlichkeit treten. Ein derart gestalteter Unterricht wirkt immer belebend, erfrischend und gestaltet sich spannungsreich für Pädagogen und Schüler gleichermaßen.
Schule ist ja ein großes Geschenk gerade beim Lernen, wie man mit Konflikten umgehen kann: In kaum einer andern Lebenssituation sind Menschen mit so vielen verschiedenen anderen Menschen so nahe und so lange zusammen wie im Klassenzimmer. Kinder lernen hier jeden Tag, das Menschen viel mehr sind als die Kategorien beschreiben, in die Erwachsene einander gerne einordnen.
Sie fordern trotzdem ein neues Fach Sozial- und Konfliktkompetenz. Warum?
Sylvia Aulinger-Bischof: Kinder haben ein Recht auf ein Erziehungs- und Bildungssystem, das sie dazu ermutigt, zu selbstbestimmten, freien und gesunden Individuen heranzureifen und ihnen das geeignete „Werkzeug“ dafür an die Hand gibt. Persönlichkeitsentwicklung und -bildung gehen - wie das künstlerische Gestalten auch - einher mit der Ausbildung von Konfliktkompetenz und machen dieses Fach daher so immens wertvoll.
Seit einigen Jahren konnte dieses Fach an einer Fremdsprachenschule in München für zukünftige Fremdsprachenkorrespondenten als Wahlfach eingeführt werden. Ich staune immer wieder aufs Neue, was durch die gemeinsame Arbeit mit den Schülern jedes Schuljahr zum Positiven verwandelt werden darf und wie Aufmerksamkeit, Interesse, Kommunikationsfreude, Beziehungsfähigkeit, Kreativität und eine vertrauensvolle Atmosphäre in diesem Fach lebendig werden dürfen. Sozial- und Konfliktkompetenz ist ein Stück tragende Lebenskompetenz.
Sie beraten Menschen beim Lösen von Konflikten. Ihre Kritik richtet sich da an Lehrer: Die „seien kaum zu einer konstruktiven Konfliktlösung bereit; sie kämpfen mit unsinnigen Mitteln wie Drohen, Strafaufgaben, Verweisen usw. um ihre Machtposition und zeigen so, wer am 'längeren Hebel sitzt'”, sagen sie. Nun gibt es viele Eltern, die wegen schlechter Klausurnoten ihrer Kinder Anwälte bemühen.
Ist Ihre Kritik an den Lehrern nicht etwas einseitig?
Sylvia Aulinger-Bischof: Natürlich will ich nicht alle Pädagogen über einen Kamm scheren. Nicht nur unsere immer konfliktreichere Welt scheint für Gegenwart und Zukunft dringend konstruktive Gestalter in Konflikt- und Krisensituationen zu benötigen. Auch in Familien, Klassen- und Lehrerzimmern sowie in Organisationen zeigen sich zunehmend verhärtende Fronten ohne Aussicht auf konstruktive Lösungen hinsichtlich der unterschiedlichen Positionen.
Dabei bieten gerade Konfliktsituationen unerschöpflich große Entwicklungsmöglichkeiten für alle Beteiligten. Vielen Lehrern und Eltern gleichermaßen fehlt das „Werkzeug an der Hand“, um sich auf heilsame Art Konflikten stellen zu können. In der Schule als auch im Studium für zukünftige Lehrer werden Konflikt- und Sozialkompetenzen nicht gelehrt und die geschilderte Kritik gründet auf diesem Mangel von Wissen. Von wem also sollen die Kinder und zukünftigen Eltern Lebens- und Konfliktkompetenz lernen?
Ich halte daher die Einführung dieses Fachs für Kinder und Jugendliche und die Ausbildung von Pädagogen in diesem Bereich für essenziell. Um diese „Lücke“ zu füllen, arbeite ich zusammen mit der besagten Fremdsprachenschule in München an einer Zusatzqualifikation Coaching und Konfliktmanagement für Erzieher und Lehrer, die ab September 2021 starten soll.
Nehmen wir mal an, es gäbe die Fee mit den drei Wünschen: Wenn Sie drei Dinge in unseren Schulen mit einem Fingerschnippen ändern könnten, welche wären das?
Sylvia Aulinger-Bischof: 1. Bildung, die dem Menschen dient und nicht umgekehrt die Menschen dienstbar zu machen versucht für Wirtschaft und Politik.
2. Erziehung und Bildung zur Freiheit und nicht umgekehrt zur Konditionierung.
3. Pädagogen, die ein Gegenüber und Ansprechpartner sind, d. h. die Heranwachsende warmherzig-interessiert und tatkräftig dabei unterstützen, als Mensch immer mehr Mensch zu werden.