Eine Überzeugung zu vertreten meint laut Dudendefinition eine „feste Gewissheit“, eine „unerschütterliche Meinung“ zu haben. Diese sichere Haltung gilt es manches Mal auch gegen Widerstände durchzusetzen, darüber sind sich die Gäste beim Sommergespräch im Hirschgarten einig. Wie weit aber darf man für die eigene Überzeugung gehen? „Der Zweck heiligt die Mittel“ heißt es im Volksmund. Darf, ja muss man also für die eigene Überzeugung auch mal Regeln brechen oder Grenzen übertreten? Darum kämpfen um jeden Preis? Dass Haltung und die damit einhergehenden Entscheidungen etwas „kosten“, merken aktuell die vielen Schüler, die im Zuge der „Friday for future“ Demos die Schule schwänzen und dafür häufig Disziplinarmaßnahmen auf sich nehmen. So wertvoll es ist, für die eigene Überzeugung zu kämpfen, so gewinnbringend kann auch das Einlenken in Kompromisse sein, bekräftigen unsere Gesprächsgäste. „Eine Haltung kann weh tun“, sagt Gesprächsteilnehmer Otto Lil-Magnus. Vor allem, wenn man keine andere Meinung mehr zulässt.
Die eigene Haltung durchzusetzen, ist nicht immer der leichte Weg. Vor allem, wenn diese Überzeugung gegen Widerstände behauptet werden muss, kostet es Anstrengung. Eine Haltung zu haben, könne aber auch deshalb manchmal wehtun, weil man zu sehr an etwas festhalte und somit unfrei werde, findet Otto Lil-Magnus. „Man muss versuchen ein Gleichgewicht zu finden.“ Abwägen, wann ist ein Kompromiss, wann das Befolgen von Regeln angemessen. „Manchmal gibt es Situationen, da kann man nicht nach Regeln entscheiden“, sagt Lil-Magnus. Wenn etwa erkennbar sei, dass es in einer Situation einen Schwächeren gibt und die Entscheidung nach Regeln unfair ausfiele. Dann lasse auch der Schiedsrichter sich mal vom Gefühl leiten, um ein Gleichgewicht herzustellen. Nicht alles, was „richtig“ ist, ist zugleich gerecht. Die Empathie spielt bei der Entwicklung der eigenen Überzeugung mit.
Ohne Überzeugung aber geht es nicht, glaubt Georg Eisenreich: „Jeder Mensch sollte eine Haltung haben. Das ist nicht für jedes Thema notwendig, aber doch bei den grundsätzlichen Fragen unseres Zusammenlebens.“ Gemeinsame Werte, auf die man sich einigt, gestalten Staat, Gesellschaft, Familie oder Nachbarschaft. „Eine Demokratie braucht Demokraten. Da ist jeder Einzelne gefordert. Demokratie heißt aber auch, zu akzeptieren, dass am Ende die Mehrheit entscheidet.“
Anders sieht dies Paul Breitner, der dem Einzelnen diese Fähigkeit abspricht: „Ich denke, dass die Mehrheit der Gesellschaft mit diesem Thema überfordert ist.“ Mit welcher Grundausstattung man ins Leben starte, sei entscheidend: „Nur wer in der Kindheit Werte wie Selbstständigkeit und Verantwortungsbewusstsein erlernen durfte, wird später in der Lage sein, frei eine Meinung zu entwickeln“, glaubt Breitner. „Die Masse aber wird gesteuert.“
Bestes Beispiel dafür sei die „feige, pervertierte Meinungsfreiheit“ im Internet. „Wir erleben doch tagtäglich Shitstorms oder Ähnliches, wo zum Beispiel Politiker angegriffen und bedroht werden. Da wird einer an die Wand genagelt von Millionen und Abermillionen“, sagt Paul Breitner und schließt daraus: „Ich denke, dass wir viel zu viel Meinungsfreiheit haben.“
Dass nur ein bestimmter sozialer oder intellektueller Hintergrund einen zur Entwicklung einer eigenen Haltung befähigt, weckt vor allem bei Karin Lohr Widerspruch. Als Geschäftsführerin des Biss-Magazins erlebe sie viele Schicksale. Auch wer keine gute Kindheit hatte, könne seinem Leben später noch eine neue Wendung geben. Auch Breitners Ansicht über die negativen Dynamiken im Internet teilt Lohr nicht: „Ich glaube nicht, dass das Internet alles kaputt macht. Es gibt auch da Leute, die ihre fünf Sinne noch beieinander haben.“
Einig sind sich die Sommergäste darüber, dass Überzeugungen bzw. Meinungsäußerungen dort auf Grenzen stoßen, wo die Freiheit des anderen beginnt. „Was du nicht willst, das man dir tut, das füg‘ auch keinem andern zu“, heißt es im Volksmund. Anders gesagt: Unser Miteinander erfordert Respekt vor der Meinung anderer. Neben Ethik und Moral greifen auch Recht und Gesetz und gestalten den Rahmen der Gesellschaft. Bei Beleidigung, Verleumdung oder Volksverhetzung sind klare Grenzen gesetzt. „Keine Freiheit ist grenzenlos“, betont Georg Eisenreich. „Sie endet da, wo das Recht oder die Ehre anderer verletzt wird.“ Die Anonymität im Internet sei da ein Problem, wo sie benutzt werde, um zu hetzen oder zu beleidigen. „Dann wird Freiheit missbraucht. Statt Debattenkultur herrscht dann Stimmungsmache. Dagegen müssen wir uns wehren“, so der Justizminister.
„Es gibt Grundwerte, die sind nicht verrückbar“, erklärt Dieter Wünsche. Respekt, Vertrauen oder auch Akzeptanz gehörten dazu. Dass eine kultivierte Gesellschaft auf ethische Grundsätze fußt und Anstand, Nächstenliebe oder Achtung hochhält, sollte eigentlich unstrittig sein. Paul Breitner aber klagt an: „Wo sind denn die Vorbilder? Wo sind die Abgeordneten, die aufstehen, wenn ein Volksverhetzer am Rednerpult steht?“ Auch Kirchen hätten ihre Vorbildfunktion längst abgetreten.
Ist aber dem Einzelnen wirklich nichts zuzutrauen? Brauchen wir mehr Führung, mehr staatliche Autorität? Wo Paul Breitner den Mangel an Führungspersonen beklagt, plädiert Dieter Wünsche dafür, dass jeder das Seine nach bestem Wissen und Gewissen dazutue: „Jeder Einzelne kann seinen Beitrag leisten, egal in welcher Position er ist. Ob im Verein oder im Geschäftsleben. Es fängt unten an, dass sich etwas verändert.“
Dass es nicht immer bequem ist, für die eigene Haltung einzustehen, ist klar. Sich für das „Richtige“ stark zu machen, statt einem Anführer zu folgen, ist nichts für Feiglinge und kann unter Umständen unbeliebt machen, auch Beziehungen kosten. „Es fängt in der Familie, im Freundeskreis an“, sagt Ralf Honig. „Dort muss man Mut aufbringen und entscheiden, sag ich etwas. Dort ist es besonders schwierig, denn eigentlich mag man sich.“
Täglich ist der Mut, zur eigenen Überzeugung zu stehen, gefordert. Eva Jüsten nennt Beispiele von Konflikten auf der Straße: Ob Biertrinkende, frei laufende Hunde, zu laute Musik oder feiernde Jugendliche, immer wieder komme es im Straßenraum zu Irritationen, die zu Konflikten führen können. „Sofort wird sich beschwert, statt zu sprechen“, weiß Eva Jüsten. „Das ist ein Phänomen, das wir sehr stark ausmachen: Bei Irritationen wird sehr schnell der Ruf nach Polizei oder mehr Sicherheit laut.“ Doch die Städte verändern sich. Der öffentliche Raum werde immer enger. Zugleich muss aber jeder darin Platz finden. Daher müssten Großstädter eine sogenannte „urbane Kompetenz“ erlernen, fordert Jüsten. Dazu gehöre es, den Mut zu entwickeln, Verantwortung zu übernehmen statt sie weiterzugeben.
Anstatt sich hinter Vorschriften und Regeln zu „verstecken“, gilt es, Haltung zu wagen. Vorgaben und Regeln alleine können unser Zusammenleben nicht gestalten. „Die pure Gerechtigkeit kann kalt, ja sogar eiskalt sein“, meint Ralf Honig. „Es gibt noch etwas anderes als Gesetze und Regeln, was damit zu tun hat, wie authentisch man ist.“ Sich in den Anderen einfühlen, die Perspektive wechseln. Biblisch sei damit die Barmherzigkeit gemeint. Empathie und Kompromissbereitschaft sind häufig die Schlüssel, um verhärtete Kanten aufzuweichen.