„Was wir mit zehnjährigen Mädchen und Jungen an unseren Grundschulen anstellen, ist nicht nur fragwürdig, es wird Kindern in keiner Weise gerecht.“ Mit diesen Worten übte die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV), Simone Fleischmann, Kritik am Übertrittsverfahren.
Anlass sind die Übertrittszeugnisse, die Anfang Mai an Mädchen und Jungen vierter Grundschulklassen ausgehändigt werden. Sie berechtigen zum Übertritt auf eine weiterführende Schule. Wer ein Gymnasium besuchen will - und das wollen die meisten - braucht einen Schnitt von mindestens 2,33 in den drei Hauptfächern Mathematik, Deutsch, Heimat- und Sachkunde. Damit dieser Schnitt ermittelt werden kann, müssen die Kinder zwischen Weihnachten und April ca. 20 Prüfungen absolvieren. „Dieser Marathon überfordert viele Kinder“, erklärt Fleischmann. Am sinnvollsten aus pädagogischer Sicht wäre es jedoch, „Schulen grundsätzlich so zu gestalten, das sie zum Kind passen - nicht umgekehrt.“ Das Kultusministerium fordert sie auf, das gängige Verfahren kritisch zu hinterfragen.
Es sei nicht mehr tragbar, dass sich jedes Schuljahr die gleichen Szenen abspielten und der Leidensdruck, dem Kinder, Eltern und Lehrkräfte ausgesetzt seien, nicht endlich abgestellt werde. Kinder würden unter einem schier unerträglichen Druck stehen, was absolut kontraproduktiv sei. Denn: In ihrer Persönlichkeitsentwicklung bräuchten sie Kontinuität. Sie müssten wahrgenommen werden mit all ihren Kompetenzen, Stärken und Schwächen, Bedürfnissen und Potentialen und - bei Bedarf - entsprechend individualisierte Förderung erhalten. Der Blick aufs Kind und seine Bedürfnisse sollte Grundlage für eine Entscheidung über seine Bildungsbiografie sein, nicht die Auslese nach Noten.
„Noten messen Kompetenzen nur bedingt - sie lösen zudem Druck und Angst aus.“ Freilich gebe es Kinder, die in den vierten Grundschuljahrgangsstufen durchmarschierten. „Es gibt aber auch die anderen, die das nicht können“, betonte die BLLV-Präsidentin: „Kinder, die nachts nicht mehr schlafen können, die von Ängsten geplagt sind, Kinder, die krank werden, die ihre Motivation verlieren.“ Jedes einzelne Kind müsse mit seinen Fähigkeiten mehr in den Mittelpunkt rücken.
Für diesen Blick auf die individualisierte Leistung brauche es vor allem: Zeit. „Zeit, um Leistung zu zeigen, Zeit um Leistung zu diagnostizieren. Zeit für Bildung. Zentrale Aufgabe von Schule und Bildung ist es doch, Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft jedes einzelnen Schülers zu stärken. Das wollen gerade auch die Lehrkräfte, doch auch sie sind an systemische Zwänge gebunden. Auch für die Lehrkräfte seien vierte Grundschulklassen eine extreme Herausforderung. „Viele halten dem Druck, der in dieser Zeit auch von vielen Eltern ausgeübt wird, kaum noch stand.“ Jedenfalls sei es eine Tatsache, dass viele Lehrkräfte die Klassenleitung dritter und vierter Grundschuljahrgänge ablehnten.