Holocaust-Zeitzeuge Max Mannheimer feierte 90. Geburtstag

Haar · Ein großer Kleckser

Zum Geburtstag schenkte ein Freund Max Mannheimer (3. v. li.) ein Straßenschild – eine Zukunftsvision? Weitere Gratulanten (v. li): Ingrid Fäth, Helmut Dworzak, Natascha Kohnen, Alt-BM Hans Wehrberger, Peter Bock. 	Foto: hgb

Zum Geburtstag schenkte ein Freund Max Mannheimer (3. v. li.) ein Straßenschild – eine Zukunftsvision? Weitere Gratulanten (v. li): Ingrid Fäth, Helmut Dworzak, Natascha Kohnen, Alt-BM Hans Wehrberger, Peter Bock. Foto: hgb

Haar/Grafing · Max Mannheimer, einer der letzten Überlebenden des Holocaust, der seit 37 Jahren in Haar lebt, feierte am vergangenen Samstag seinen 90. Geburtstag. »Auch heute ist es noch mein Hauptziel, junge Leute vor der Gefahr einer Diktatur zu warnen«, betont der vitale Buchautor und Maler mit dem markanten Haarschopf. Gezeichnet sind seine Bilder mit dem Pseudonym »ben jakov«.

Zur Gratulation des Jubilars, der schon mehr als sechs Jahrzehnte Mitglied der Sozialdemokratischen Partei ist, kamen Bayerns SPD-Generalsekretärin und Landtagsabgeordnete Natascha Kohnen aus Neubiberg, Bürgermeister Helmut Dworzak nebst Vertretern des SPD-Ortsvereins. »Seit 24 Jahren bin ich als Zeitzeuge unterwegs, halte Vorträge und erzähle von der Vergangenheit.

Dabei gibt es bis heute keine Zäsur – im Gegenteil, das Interesse der Jugendlichen ist da, nimmt sogar zu. Und: Sie alle finden das Vergangene einfach unbegreiflich«, so Max Mannheimer. »Immer wieder zitiere ich Winston Churchill: Demokratie ist keine gute Regierungsform, aber ich kenne keine bessere. Das wirkt!« Gestenreich mit Hand- und Armbewegungen unterstreicht der in Nordmähren geborene Jude seine Aussagen. »Das Gymnasium Grafing ist meine Meisterschule, dort habe ich schon 31 Mal gesprochen; ich gehe auch in viele Real- und Hauptschulen. Ich komme als Zeuge jener Zeit in die Schulen, nicht als Richter oder Ankläger.

Und in Dachau – das ist ja nur 37 Kilometer entfernt – bin ich auch oft«, versichert Mannheimer, der auch Beiratsmitglied der Vereinigung »Gegen Vergessen – Für Demokratie« ist. Zugleich ist Mannheimer seit 1988 Vorsitzender der Lagergemeinschaft Dachau. Plötzlich funkeln seine Augen. Er erinnert sich an die Frage einer Schülerin: »Gab es auch SS-Leute, die menschlich waren?« – »Ja, ich kenne einen aus Berlin«, war die ehrliche, erstaunliche und zugleich gelassene kurze Antwort. Das Stichwort »Schule« führt nahtlos in die nächste Aussage: »Ich war in der Schule praktisch ein Versager, wegen Latein. Ein Lehrer sagte einmal, der Mannheimer hat am Latein nicht mal gerochen.«

»Mir geht es ausgezeichnet«, beantwortet Mannheimer die Nachfrage des Gemeindechefs Dworzak zu seinem Befinden. »Ich fühle mich in Haar wohl, die Leute kennen mich, da muss ich aufpassen, dass ich mich gut benehme«, sagt er verschmitzt, er, der vielfach Ausgezeichnete, unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz und der Ehrendoktorwürde der Ludwig-Maximilians-Universität München. Max Mannheimer wohnte früher in Schwabing. »Da wurde die Miete erhöht, also sagte ich zu meiner Frau, ›lass uns einen Kredit aufnehmen und ein Haus kaufen‹. So landeten wir in Haar. Das Haus, vor allem der Keller, war Therapie für mich, da hatte ich Platz zum Malen, denn Sie müssen wissen, ich bin ein großer Kleckser.« Zu Fuß ist der Jubilar kaum mehr unterwegs, »denn zwei neue Knie und eine neue Hüfte, das geht nicht mehr so gut. Doch Jürgen Klinsmann, den ich in seiner Zeit als Bundestrainer mal getroffen habe, meinte, ich könnte noch als Hundertjähriger auf der Reservebank sitzen. Aber das geht nicht – wissen Sie warum?«, fragt Mannheimer und beantwortet lächelnd seine eigene Frage: »Die Fifa-Statuten lassen das nicht zu!«

Schon hat sich das Geburtstagskind das Stichwort für seine nächste Geschichte gegeben: »Wie’s beim 100. sein wird, das kann ich nicht sagen, aber dann feiern wir im Vier-Jahreszeiten«. Beim Begriff »feiern« wird Mannheimer ein wenig nachdenklich, blickt zu Boden. Seine dritte Frau, eine Amerikanerin, inzwischen 87 Jahre alt, lebt in einem Heim, »ihr geht es schlecht, sie ist leider sehr schwach, sie kann nicht mitfeiern.« Der Lebenslauf und die Lebensgeschichte von Max Mannheimer sucht Vergleichbares. Mit Abschluss der Schule arbeitete der junge Mann in einem kleinen Kaufhaus. Nachdem deutsche Truppen das Sudetenland besetzt hatten, erlebte die Familie 1938 das Novemberprogrom, floh in das noch unbesetzte Ungarisch Brod, ehe auch dort die Truppen einmarschierten. Am 31. Januar 1943 wurde Mannheimer mit seinen Eltern, seinen Schwestern und seinen Brüdern deportiert – zuerst nach Theresienstadt. Bruder Erich erscheint nicht auf der Transportliste, später aber in den Sterbebüchern des Konzentrationslagers Auschwitz.

Der verhaftete Max Mannheimer wurde von Auschwitz nach Warschau und folgend nach Dachau und von dort in das Außenlager Mühldorf »verlegt«. Auf dem folgenden Evakuierungstransport befreiten ihn am 30. April 1945 bei Seeshaupt die Amerikaner. Der hagere Mann wog gerade noch 37 Kilogramm, war an Typhus erkrankt. Nur er und sein Bruder Edgar überlebten den Holocaust – seine Familie und seine erste Frau Eva wurden ermordet. Nicht nur die Häftlingsnummer 99728 auf seinem Unterarm sind eingeprägt, viel stärker schmerzen unzählige schreckliche Erlebnisse.

Nach seiner Entlassung aus dem Lazarett verließ Max Mannheimer Deutschland und schwor sich, nie wieder deutschen Boden zu betreten. Aber dann verliebte er sich in eine Deutsche – Elfriede Eiselt, seine zweite Frau (verstarb 1964), und kehrte zurück.

»Am 4. April 1986 veränderte sich mein Leben total«, berichtet Mannheimer. Wegen eines verzögerten Laborberichts vom Zahnarzt befürchtete er Krebs zu haben und dem Tod geweiht zu sein. Seine längst aufgeschriebenen Lebenserinnerungen gab er seiner damals 17-jährigen Tochter, das »Tagebuch« wurde als erster Band der Dachauer Hefte Ende 1985 bekannt, als Taschenbuch veröffentlich und später unter dem Titel »Der weiße Rabe – Max Mannheimer« verfilmt. HGB

Artikel vom 09.02.2010
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