Leben mit Handicaps: Kinder testen Bogenhausen »auf Herz und Rampen«

Bogenhausen · Gespür für Hindernisse

Führungswechsel: Nachdem Emma (r.) Tamara durch die Stadt gelotst hat, hat sie nun selber die Simulationsbrille auf, mit der sie kaum was sieht. 	Foto: ko

Führungswechsel: Nachdem Emma (r.) Tamara durch die Stadt gelotst hat, hat sie nun selber die Simulationsbrille auf, mit der sie kaum was sieht. Foto: ko

Bogenhausen · Im Kindertreff Bogenhausen die Toilette zu benutzen, ist an sich kein Problem. Was passiert aber, wenn man auf einen Rollstuhl angewiesen ist und mit dem sperrigen Gefährt versucht, bis in die enge WC-Kabine vorzudringen? Anahit (9) hat es ausprobiert. »Ich bin bis in den Vorraum gekommen, aber weiter nicht, in die Kabine hätte ich nur ohne die Tür reingepasst.«

Wie die Neunjährige haben am Freitag rund zehn der kleinen Besucher des Kindertreffs am Scherfweg beim Stadtteilcheck »Auf Herz und Rampen prüfen« des Kreisjugendrings München-Stadt erlebt, wie es ist, wenn man mit einer körperlichen Beeinträchtigung leben muss. Durchs Viertel ging es dabei mit Augenbinden, Rollstühlen und Simulationsbrillen, die eine verzerrte Optik und verminderte Sehstärke vorgaukeln. Für die Kinder, die eine Fahrt im Rollstuhl ausprobiert haben, sind dabei schon Bordsteine oder auch nur ein wechselnder Bodenbelag Hindernisse. Und die ungewohnte Fortbewegung ist beschwerlich. Etwa für Anahit, die nach ein paar hundert Metern im Gefährt stöhnt.

Das Anschieben gehe ganz schön in die Arme, sagt sie. Es fällt der quirligen Neunjährigen außerdem schwer, so lange stillzusitzen. Derweil lotst Emma (8) ihre Freundin Tamara (8), die eine Simulationsbrille trägt, gewissenhaft an einem Passanten mit Hund und einem dahinbrausenden Fahrradfahrer vorbei. Tamara ist erleichtert, dass sie sich auf Emma verlassen kann, denn ein »komisches Gefühl« sei es schon, mitten auf der Straße kaum etwas zu sehen. Einer, der die Gefühle der Kinder beim Stadtteilcheck genau kennt, ist Helmut Längl vom Blindenbund.

Im Jahr 2001 ist er durch Entzündungen auf der Netzhaut komplett erblindet. Nichts mehr zu sehen war für ihn eine »grundsätzliche Umstellung«. Die einfachsten Dinge werden zum Problem. Den Wert von Geldscheinen und Münzen ertasten etwa. Er hat damals Hilfe von Blinden bekommen, die von Natur aus nicht sehen können. Dadurch hat Längl sehr viel gelernt. Wissen, dass er jetzt bei der Aktion des Kreisjugendrings an die Kinder weitergeben will. »Es kann jeden treffen, die Sehkraft zu verlieren oder im Rollstuhl zu sitzen.«

Dann sei aber längst noch nicht alles vorbei, man könne, wie Längl selbst, sein Leben weiterhin meistern. Marie-Luise Hess, Projektleiterin von »Auf Herz und Rampen prüfen«, will das Bewusstsein der Kinder für Belange der körperlich Beeinträchtigten sensibilisieren. »Ein achtlos auf dem Bürgersteig geparktes Fahrrad kann für manche Menschen schon ein tückisches Hindernis sein, das sollen die Kinder lernen«, sagt sie.

Der Name der Fachstelle »ebs« des Kreisjugendrings, die in den vergangenen Jahren die Aktion für Kinder im Alter von sechs bis 13 Jahren in Münchner Stadtvierteln sowie am Hauptbahnhof und am Flughafen veranstaltet hat, ist Programm. Denn »ebs« steht für »erleben begegnen solidarisieren«. Die Richtlinien, nach denen die Kinder die körperliche Behinderung wahrnehmen sollen: Mit den entsprechenden Hilfsmitteln erleben die Kleinen die Welt von Menschen mit Behinderung. Sie begegnen bei der Aktion Personen, die derart eingeschränkt sind. Und sie solidarisieren sich am Ende, durch die eigenen Erfahrungen mit Augenbinde und Rollstuhl.

Seit Februar wurde beim Kreisjugendring außerdem durch die Förderung der Landeshauptstadt München eine halbe Stelle eingerichtet, über die ausschließlich Stadtteilchecks veranstaltet werden. Kirsten Ossoinig

Artikel vom 29.09.2009
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