Raus aus dem Bunker: Die ersten Tage in München für die israelischen Jugendlichen Noa und Ahlam

München - „Ich habe eine Höllenangst“

Erste Annäherungsversuche an die hießige Kultur: Noa (links) und Ahlam samt dem bayerischen Wappentier. Foto: mh

Erste Annäherungsversuche an die hießige Kultur: Noa (links) und Ahlam samt dem bayerischen Wappentier. Foto: mh

Vier Flugstunden sind Israel und der Libanon von München entfernt. Viel zu weit, um Angst haben zu müssen vor den Bomben und Raketen, die in den letzten Wochen zwischen Haifa und Beirut explodiert sind. Aber Noa und Ahlam sorgen sich trotzdem, um ihre Familien, ihre Freunde, ihre Dörfer.

Die beiden Mädchen stammen aus dem Norden von Israel, dort, wo auch die Katjushas der Hisbollah-Milizen landen. Vor knapp drei Wochen aber sind sie der Kriegshölle entkommen; bis Anfang 2007 arbeiten sie im Rahmen eines freiwilligen Jugendaustauschs im Jugendinformationszentrum der Stadt München.

Noa und Ahlam sind die ersten beiden Israelinnen seit dem Jahr 2000, die an einem offiziellen Austausch zwischen Israel und Deutschland teilnehmen. Das Land war in den letzten Jahren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als palästinensische Selbstmordattentäter im Wochentakt Einkaufsstraßen, Busse und das gesamte israelische Leben angegriffen haben. Jetzt hat sich der bewaffnete Konflikt auf die libanesische Miliz Hisbollah verlagert, und eigentlich ist deshalb auch jetzt nicht der richtige Moment, um Deutschland zu besuchen.

„Es ist hart, wenn man nicht vor Ort ist bei seiner Familie“, sagt Noa. „Ich habe eine Höllenangst, dass ihnen etwas passiert.“ Die 22-Jährige lebt in Rosh Hanikra, nur wenige Kilometer von der libanesischen Grenze entfernt. Es ist ein Kibbuz, ein kleines, genossenschaftlich organisiertes Dorf, malerisch gelegen am Mittelmeer. Am 2. August, dem Tag nach ihrer Ankunft in München, kam von dort die erste schlimme Nachricht seit Beginn des Libanon-Krieges. „Der Vater von zwei guten Freunden wurde bei einem Raketenangriff getötet.“ Sie erzählt das mit fester Stimme und schließt gleich einen Gutteil Zynismus an: „Irgendwann passiert das eben.“

Der größte Teil von Noas Familie ist zwar nach Tel Aviv geflohen, und wird dort noch ein wenig ausharren, trotz des Waffenstillstands. Aber ihr Vater und ihr Onkel waren die ganzen letzten Wochen im Kibbuz. „Nicht jeder hat die Chance fortzugehen“, meint sie, schließlich müssten die Kühe regelmäßig gefüttert und gemolken werden.

Am 12. Juli, während Noa und Ahlam gerade mit ihren Reisevorbereitungen beschäftigt waren, entführte die islamische Terrororganisation Hisbollah zwei israelische Grenzsoldaten. Daraufhin griff Israel Stellungen der Truppe im Süden Libanons an. Zurecht, wie Noa findet, die während ihres Wehrdienstes zur Panzer-Grenadierin ausgebildet wurde: „Israel hatte keine andere Möglichkeit, als auf diese Art und Weise zu reagieren.“

Den weiten Vorstoß mit Bodentruppen, der nach den ersten Gefechten kam, findet sie falsch. „Das kann man dann kaum mehr stoppen, so sehr bekommt ein solcher Konflikt dann Eigendynamik.“ Als sie schließlich Ende Juli – zwei Wochen nach Kriegsbeginn - nach Tel Aviv aufgebrochen ist, um von dort nach München zu fliegen, war niemand mehr auf der Straße ihres Kibbuz: Die meisten waren geflohen, wer geblieben war, hatte sich im Haus verschanzt.

Auch Ahlam kommt aus dem Norden Israels, aus dem kleinen Dorf Kfar Qaria in der Nähe von Haifa. Auch für sie ist die Situation schwierig, auch wenn keine Raketen auf ihr Haus fliegen. Die 18-Jährige ist eine arabische Israelin und damit Teil einer 10-Prozent-Minderheit in dem Judenstaat. „Ich bin ein arabisches Mädchen“, sagt sie von sich selbst – gläubige Muslimin ist sie allerdings nicht. Und wenn man sie nach dem Libanon-Krieg fragt, dann ist die Antwort eine zerrissene: „Es sind Araber wie ich, die von Israel bombardiert werden. Aber gleichzeitig greift die arabische Hisbollah mein Land, Israel, an.“

Genauso gespalten wie sie ist auch ihr Dorf. Manche dort sind für Israel, andere dagegen hoffen, dass der Hisbollah-Führer Nasrallah einen Sieg davonträgt, erzählt sie.

In Lebensgefahr, wie Noa, befand sich Ahlam bei ihrer Abreise nicht, für sie war es eher eine einmalige Chance den Zwängen der Traditionen zu entkommen. „Ich will endlich selbst verantwortlich sein für mein Leben“, erzählt sie.

Das Leben in Kfar Qaria laufe so streng geregelt ab, dass es kaum Möglichkeiten gebe, um sich zu entfalten. „Es wird dort jetzt sicher geredet, dass ich allein, als Frau, nach Europa gefahren bin, aber daran kann ich nichts ändern.“ Ihr Vater jedenfalls habe sie gehen lassen mit den Worten „Es ist dein Leben, mach das.“

Später einmal will Ahlam in Tel Aviv oder Beer Sheva „irgendetwas Naturwissenschaftliches“ studieren, in den nächsten Monaten in München wird sie aber erst einmal mit Behinderten arbeiten und einfach einmal das tun und lassen, was sie möchte. Noa wird im gerade entstehenden NS-Dokuzentrum mitarbeiten. „Ich finde es spannend, als dritte Generation nach dem Holocaust nach Deutschland zu kommen und ich hoffe, dass ich mit an einer neuen Zukunft bauen kann.“

Und gemeinsam wollen die beiden in den nächsten Monaten auch ihre Internetseite www.shalom-munich.de füllen – und den Münchnern selbst erzählen, wie es sich lebt in München, als arabisches Mädchen, als Jüdin, als junger Mensch.

Artikel vom 17.08.2006
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