In dieser Serie stellen wir in loser Reihenfolge ungewöhnliche Nachbarn vor

Münchner Zentrum · Stadt-Bewohner

»An den Beinen hakt es nicht«: Verena Bentele ist blind und Spitzensportlerin.	 Foto: nan

»An den Beinen hakt es nicht«: Verena Bentele ist blind und Spitzensportlerin. Foto: nan

Münchner Zentrum · »Hopp auf Drei«, obwohl sie blind ist, trifft Verena Bentele ins Schwarze. Zweimal Gold, einmal Bronze bei den Paralympics in Turin. Anschließend Interviews, TV-Auftritte, ein Abendessen mit dem CDU-Minister Wolfgang Schäuble, ein Dinner mit Bundespräsident Horst Köhler: An der 24-jährigen Biathletin Verena Bentele führt zurzeit kein Weg vorbei.

Auch wenn sich die blinde Top-Sportlerin, jetzt nach Abschluss der Wintersport-Saison, wieder auf ihr Germanistik-Studium an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) konzentrieren will.

»Hopp auf Drei, hopp gerade, hopp, hopp, hopp auf Neun – und jetzt: langsamer, Verena«: Beständig lotst Trainer Franz Lankes Bentele, die nur hell und dunkel erkennen kann, über die Biathlonstrecken dieser Welt. »Er ist mein Auge«, sagt sie. »Ich vertraue ihm sehr – da bleibt mir nichts anderes übrig.« Wenn sie allerdings in ihrer zweiten Disziplin antritt, dem Schießen, dann ist sie ganz auf sich gestellt: Die blinde Schützin verwendet Lasergewehre, die über ein akustisches Signal anzeigen, ob die Zielrichtung stimmt.

Geboren ist Verena Bentele im Dorf Tettnang am Bodensee – und zwar blind, wie ihr Bruder Michael. Das Gymnasium besuchte sie an der Blindenstudienanstalt in Marburg, mit zwölf Jahren entdeckte sie die Leichtathletik für sich und bald darauf die Liebe zu den Langlauf-Loipen: ihre Karriere als Biathletin nahm ihren Lauf. 1997 holte Bentele erstmals EM-Gold – und gewann fortan Meisterschaften am laufenden Band. Seit 2001 treibt sie parallel zu ihrem sportlichen Erfolg ihre Universitätskarriere voran – und begann zunächst, Psychologie zu studieren. »Das allerdings ist ein sehr verschulter Studiengang: Ich verpasste zu viel Stoff, wenn ich bei Wettkämpfen war«, sagt sie. Und weil sie nicht auf den Sport verzichten wollte, hat sie das Studienfach gewechselt: »Ich studiere jetzt Neuere Deutsche Literatur. Hier kann ich den Stoff, den ich im Winter verpasse, im Sommer nachholen.«

Aber auch das ist nicht ganz ohne Probleme - manche ihrer Professoren würden ihr kein Zeugnis ausstellen, wenn sie mehr als zwei Mal im Kurs fehlt: »Wissenschaftler haben oft kein Verständnis für den Sport!« Dennoch laufe es ganz gut im Studium – auch, wenn es oft mühselig sei, Literatur zu bekommen: Hilfe braucht Verena Bentele etwa, wenn sie in der Bibliothek die Bücher sucht. Hat sie diese endlich bekommen, muss der Inhalt Seite für Seite auf einen Scanner, der die Buchstaben in Braille-Blindenschrift übersetzt.

Ansonsten aber kommt Bentele sehr gut alleine zurecht. »Es ist mir eher lästig, wenn ich zum Beispiel eine Treppe hinaufgehe und mich Leute aus übertriebener Hilfsbereitschaft heraus packen und hochtragen wollen«, sagt sie. »Dabei sind es bei Blinden nicht die Beine, an denen es hakt.« Ihre Träume? 2010 bei den Paralympics in Vancouver mindestens genau so viele Medaillen einzuheimsen wie jetzt in Turin. Und später Rhetoriktrainerin für Sportler zu werden. »Manche Spitzensportler bringen keinen Satz zustande – da täte ein wenig Übung gut«, ist sie überzeugt. Und Sehen – freilich würde sie gerne wissen, wie sich das anfühlt. »Wenn es mir nicht gefallen würde, könnte ich die Augen ja wieder schließen«, sagt sie flapsig. »Aber im Ernst: ich hätte gerne mal Blickkontakt zu anderen Menschen. Das ist sicher spannend. Leider kann ich mir gar nicht vorstellen, wie das ist.« Nadine Nöhmaier

Artikel vom 11.04.2006
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