Ein UN-Sonderberichterstatter zwischen Bildungsshow und Schulrealität

Münchner Norden · Alles, bloß kein Theater

Der Schein trügt: Die Delegation um den UN-Sonderberichterstatter Prof. Vernor Muñoz Villalobos (2.v.r.) aus Costa Rica machte sich ein Bild von der Bildungssituation an Münchens Schulen. Bei einem Spontanbesuch abseits des Tour-Plans stellten sie sehr kr

Der Schein trügt: Die Delegation um den UN-Sonderberichterstatter Prof. Vernor Muñoz Villalobos (2.v.r.) aus Costa Rica machte sich ein Bild von der Bildungssituation an Münchens Schulen. Bei einem Spontanbesuch abseits des Tour-Plans stellten sie sehr kr

Münchner Norden · Die Situation kennt beinahe jeder, der selbst einmal die Schulbank gedrückt hat. Wenn der Schulrat zu Besuch kommt, zum Beispiel, oder bei der Bewertungsstunde für Referendare ein kleines Komitee im Klassenzimmer sitzt…

Dann läuft meistens alles prima. Die Schüler sind brav, die Finger schießen in die Höhe, keine Unruhe im Klassenzimmer – dass die Realität freilich ganz anders aussehen kann, darum weiß wohl auch Professor Vernor Muñoz Villalobos.

Muñoz ist Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen (UN) und war am Donnerstag vergangener Woche, 16. Februar, im Rahmen seiner Deutschlandreise zu Besuch in zwei Schulen im Münchner Norden. Sein Auftrag: Herausfinden, wie es um die Deutsche Bildungssituation bestimmt ist. Und zwar fernab jeder steriler Vorführstimmung mit Theateraufführungen und einstudierten Antworten.

Um die Theater-Show kam Muñoz denn doch nicht herum, als er pünktlich um 8.30 Uhr vor der Grundschule an der Hanselmannstraße, Milbertshofen, stand. Zusammen mit seinem Dolmetscherstab wurde er durch die moderne Schule geführt: 410 Schüler, 60 Prozent Migrantenanteil, angeschlossener Kinderhort, junges, schickes Gebäude und ein kleines Theaterstück. Noch während die Hausmeister eifrig damit beschäftigt waren, die Pressevertreter des Hauses zu verweisen, tritt ein Dolmetscher mit verkniffenem Gesicht an die Reporter und erkundigt sich: »Gibt es hier nicht noch eine andere Schule, die Herr Muñoz besuchen könnte?« Denn Muñoz wolle sich schließlich ein möglichst realitätsnahes Bild von der Situation machen.

Kurz darauf war der Tross auch schon unterwegs in die wenige Meter entfernte Hauptschule an der Schleißheimer Straße. Schulleiter Johann Greßirer hatte gerade noch Zeit für eine Durchsage an die Schüler, da musste er auch schon bei knallharten Fragen von Muñoz die Karten auf den Tisch legen: Rund 80 Prozent Migrantenanteil bei rund 250 Schülern, seit Schuljahresbeginn gibt es die Ganztagsbetreuung für fünfte und sechste Klassen und mit einer Praxisklasse werden lernschwache Schüler auf ihre Ausbildung vorbereitet. »Ist ihre Schule behindertengerecht?«, wollte Muñoz wissen; nachdem ihn selbst der Weg ins Lehrerzimmer über zahlreiche, rund 100 Jahre alte, Stufen geführt hatte, wunderte es ihn sichtlich wenig, dass Greßirer vorsichtig einräumt: »Rollstuhlfahrer haben hier wenig Möglichkeiten.«

Da knirschten die Vertreter des Kultusministeriums gewaltig mit den Zähnen – aber Herr Muñoz fragte weiter.

»Glauben Sie, dass es an einem Gymnasium ähnliche Verhältnisse gibt?« Es dauerte ein wenig, bis Greßirer die passende Antwort gefunden hatte: »Unsere Schule hat einen ganz anderen Einzugsbereich«, umkreiste der Schulleiter schließlich den Kern der Sache.

Dabei jagte Muñoz bei seinem Deutschlandbesuch, zwischen 13. und 21. Februar besuchte er auch Schulen in Berlin, Potsdam und Bonn, vor allem der Frage nach, ob Bildung in Deutschland auch wirklich für alle Schüler gleich zugänglich ist, wie es die allgemeine Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen in Artikel 26 verlangt.

Die jüngste PISA-Studie vom Dezember 2004 stellt dies aktuell in Frage. Darin wird die These formuliert, dass Kinder aus wohlhabenden Familien in Deutschland bessere Bildungschancen hätten. Anders ausgedrückt: »Denken Sie, dass in Deutschland eher Kinder reicher Eltern aufs Gymnasium gehen?«

Schulleiter Greßirer kam angesichts der entwaffnenden Direktheit sichtlich ins Stocken: »Die Bedingungen sind je nach Bevölkerungsschicht unterschiedlich. Es hängt auch viel am Freizeitverhalten der Elternhäuser.« Und es sei auch eine Frage der Zukunftsaussichten, erklärt Greßirer wenige Sätze später: »Wenn ein Elternteil arbeitslos ist und ein anderer einen Mini-Job hat, dann fehlt den Schülern doch auch die Perspektive, etwas zu leisten.«

Welche Perspektiven die Bildung in Deutschland aus Sicht der Vereinten Nationen hat, wird Muñoz sicherlich in seinem Abschlussbericht darstellen, der 2007 vorgestellt werden soll. In einer mündlichen Stellungnahme wird der UN-Sonderberichterstatter der Menschenrechtskomission bei ihrer diesjährigen Sitzung von seiner Deutschlandvisite erzählen.

Vielleicht auch davon, dass die Hauptschüler in der Schleißheimer Straße »Sportunterricht« am liebsten mögen, »Deutsch« und »Englisch« aber gar nicht, wie eine Klasse beim Blitzbesuch gestand. Gerald Feind

Kein »Tourismusausflug«

Vernor Muñoz Villalobos aus Costa Rica ist seit Juli 2004 Sonderberichterstatter über das Recht auf Bildung für die UN-Menschenrechtskommission. Er sammelt Informationen zur Bildungssituation in verschiedenen Teilen der Erde und fungiert als Berater der jeweiligen politischen Gremien. Im Rahmen einer »Generaleinladung«, die seitens der Bundesregierung 1999 an alle UN-Sonderberichterstatter ausgesprochen worden ist, darf Muñoz jederzeit die für sein Ressort relevanten Einrichtungen, Behörden sowie deren Vertreter und Nutzer besuchen und befragen. Bei seiner Visite vergangene Woche interessierte sich Muñoz neben den alltäglichen Eindrücken vor allem auch für vor- und nachteilige Auswirkungen des Förderalismus auf das Deutsche Schulsystem. Auch wenn laut eines Dolmetschers »diese Reise kein Tourismusausflug« war, so wird Muñoz vielleicht im Vorbeifahren einen Blick auf die Fröttmaninger Fußball-Arena geworfen haben. Denn zum WM-Auftakt wird die Deutsche Nationalmannschaft dort antreten – gegen Costa Rica.

Artikel vom 21.02.2006
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