Albrecht Ackerland über Höllenqualen

„Da schau her“

An Heiligabend, so heißt es, steigt die Selbstmordrate. Eine paradoxe Sache – geht es doch an Weihnachten um die Geburt, nicht um das Gegenteil davon. Allerdings kann man seine eigene Geburt nicht selbst herbeiführen – höchstens vielleicht das Erlebnis einer solchen mittels Drogen, aber das gilt schließlich nicht.

Leider ist es ein ganz klein wenig verständlich, warum sich an Weihnachten viel mehr Menschen als sonst das Leben nehmen. Wird doch zu keiner anderen Zeit im Jahr so deutlich, ob man den sprichwörtlichen Kreis seiner Lieben hat – oder eben nicht. Vollkommen klar ist, dass Selbstmord keine Lösung für irgendwas ist. Ein gewöhnlicher Mord ist das ja auch nicht, und er endet für alle Beteiligten tragisch. Nach altkatholischem Glauben kommt schließlich der Mörder – und natürlich im ganz Speziellen der Selbstmörder – in die Hölle

Letzten Samstag musste ich zum Viktualienmarkt und danach noch in ein großes Kaufhaus. Den Marienplatz konnte ich also nur schwerlich umgehen, und in jenes Kaufhaus musste ich ohnehin schauen. In diesen Minuten hatte ich immer wieder Erscheinungen, es blinzelte in meinem Kopf, als ob da drinnen ein Sternwerfer hinge. Aus irgendeinem Grund hatte ich kurze Ahnungen, wie es in der Hölle sein muss – gäbe es sie denn wirklich. Dort muss die ganze Zeit angewärmter Alkoholdunst umherwabern, der angereichert ist mit ekelerregend weinsäuerlicher Süße und künstlich erzeugtem Zimtaroma. Das Körpergefühl in der Hölle, so stellte ich es mir vor, war das eines ausgewachsenen Glühweinkaters: drückender Kopfschmerz und Speiseröhrenübersäuerung. In der Hölle, so ahnte ich, herrscht nie Ruhe, sondern allerorten terrorisieren einen turbosüße Klänge aus den Kehlen von Plastikengeln, die vorgeben, die Frohe Botschaft zu verkünden. In der Hölle kommt man keinen Schritt in normaler Gehgeschwindigkeit voran, einen Quadratmeter teilen sich fünf Kreaturen, die schlecht riechen und eine Rastlosigkeit ausstrahlen, wie man sie aus Kaufhäusern an Adventssamstagen kennt.

Mir drängte sich der Gedanke auf, dass es eigentlich ein Wunder ist, dass die Weihnachtsselbstmörder bis zum Vierundzwanzigsten warten. Und das meinte ich für mich alles andere als witzig. Dann verließ ich fluchtartig die Weihnachtshölle.

Zu Hause angekommen, hatte ich meine Besinnung wieder. Ich zündete eine Kerze an, genoss die Ruhe und öffnete heimlich das Adventskalender-Türl vom nächsten Tag. Denn: Ich kann es kaum noch erwarten, bis Weihnachten da ist.

Artikel vom 08.12.2005
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