Luca Cherubino über Glasscherbenviertel

„Da schau her“

Es kommt nicht oft vor, dass mich beim Fernsehen irgendetwas schocken würde. Letzten Sonntag aber sah ich einen Beitrag, der mich mit offenem Mund zurückließ. Beim Zappen stieß ich auf einen Beitrag über prügelnde Mädchengangs in Neuperlach. Im Film wurde ein Szenario aufgebaut, als ob die Hochhaussiedlungen in unserer Trabantenstadt jetzt schon verkommener seien als die Pariser Vorstädte nach zwei Wochen Randale, und die darin lebenden jungen Bewohnerinnen noch schlimmer seien als junge Neonazis, deren hochgradige Frustration sich in blindem Hass entlade.

Zugegeben, ich selbst war seit Jahren nicht mehr wirklich draußen in Neuperlach. Trotzdem hab’ ich, nachdem der Film zu Ende war, nur gedacht: „So a Schmarrn!“

Sicher, immer wenn ich früher durch Neuperlach gelaufen bin, kam mir angesichts der fast schon unanständig hohen Häuser ein ähnlich bedrückendes Gefühl hoch, als ob ich vor den Toren von Alcatraz stünde. Aber dieser Eindruck täuscht: Hinter den gar nicht immer so gleichen Betonfassaden verbergen sich recht große und komfortable Wohnungen. Und die Menschen, die darin leben, sind meistens auch recht nett. Von Pariser Verhältnissen ist man dort weit entfernt. Und bis in München Autos angezündet werden, muss noch sehr viel passieren. Wenn die Steuern noch weiter erhöht werden würden, verordnet werden würde, dass nur noch Menschen mit Abitur eine Lehrstelle bekommen könnten oder das Aufmotzen von Autos verboten wäre – dann könnte es zum Aufstand kommen. Aber auch dann nur: Vielleicht.

Schließlich braucht München seine Glasscherbenviertel im äußersten Süden und äußersten Norden. Allein, um dem Bild einer Großstadt zu entsprechen. Immer, wenn uns Berliner und andere Piefkes vorwerfen, in einem riesigen Dorf der Glückseligen zu leben, können wir mit einer Mischung aus Stolz und Ehrfurcht darauf hinweisen, dass es auch bei uns Viertel gebe – Neuperlach und Hasenbergl, in denen es sogar berüchtigt zugeht. Es werden schließlich nicht völlig grundlos Filme wie „Ghettokids“ im Hasenbergl gedreht? Es ist doch kein Zufall, dass der erste aus Deutschland abgeschobene jugendliche Serienstraftäter in Neuperlach aufgewachsen ist? Und Erkan und Stefan kommen samt ihrer im ganzen Land bekannten Kanakensprache doch auch von dort? Eben.

Doch insgeheim wussten wir immer, dass es so schlimm eigentlich nicht zugeht in unserer Stadt. Denn schließlich ist Mehmet ein Einzelfall geblieben, sind Erkan und Stefan sympathisch und Ghettokids hätte wirklich auch in jeder anderen Stadt gedreht werden können. Aber das müssen wir ja den Berlinern nicht sagen.

Artikel vom 17.11.2005
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