Die CSU setzt im Landtag umstrittenes Kinderbetreuungsgesetz durch

München - 14 Stunden Protest ohne Erfolg

Als „Paradigmenwechsel“ lobt Bayerns Sozialministerin Christa Stewens ihr Kinderbetreuungsgesetz.	 Foto: Archiv

Als „Paradigmenwechsel“ lobt Bayerns Sozialministerin Christa Stewens ihr Kinderbetreuungsgesetz. Foto: Archiv

„Zumindest mussten sie sich alles anhören“, sagt Simone Paulmichl, Sprecherin der Grünen-Fraktion im bayerischen Landtag. 14 Stunden haben die Abgeordneten von Grünen und der SPD bis tief in die Mittwochnacht an die CSU-Landtagsmehrheit hingeredet, um doch noch eine Änderung im Kinderbildungs- und –betreuungsgesetz (BayKiBiG) herbeizuführen.

Das Argument der Opposition für die Redeschlacht ohne Zeitbeschränkung: Die CSU habe 400 Petitionen, eine Protestaktion mit über 4.000 Teilnehmern vergangenen Samstag auf dem Marienplatz und 20.000 gesammelte Protestunterschriften „arrogant missachtet“. Alle 15 Abgeordneten der Grünen und 33 der 41 SPD-Abgeordneten standen vergangenen Mittwoch im Plenarsaal auf der Rednerliste, um die mehrheitsfähige CSU von ihrem Gesetz abzubringen. Die CSU aber ließ sich durch den Redemarathon nicht beeindrucken: Einhellig stimmten sie – kurioserweise exakt um fünf nach zwölf – für den Gesetzesentwurf, der nun am 1. August in Kraft tritt.

„Es ist eine Minute vor zwölf“, sagte Oppositionschef Franz Maget (SPD) am frühen Nachmittag des Redemarathons. „Denn es soll ein Kindertagesstättengesetz verabschiedet werden, dass die Kinderbetreuung in Bayern verschlechtern wird. Eine neuerliche Beratung dieses Gesetzes ist dringend erforderlich! Lassen Sie sich von der Zweidrittel-Mehrheit nicht zu Arroganz und Ignoranz verleiten“, rief er der CSU zu.

Sozialministerin Christa Stewens (CSU) sprach dagegen von einem „Paradigmenwechsel“. Das Gesetz baue die Kinderbetreuung aus und gehe mit einer Qualitätssteigerung vor allem in der frühkindlichen Bildung einher. Künftig beispielsweise haben neben Kindergärten auch Krippen, Horte und Tagespflege einen Anspruch auf staatliche Förderung. Die Zuschüsse berechnen sich fortan nicht mehr pro Gruppe, sondern pro Kind und gebuchter Betreuungszeit.

Zudem sollen Kommunen künftig vor Ort entscheiden, welche Einrichtungen sie finanzieren: Sie sind sogar gesetzlich verpflichtet, für genügend Betreuungsplätze zu sorgen. Festgelegt werden auch allgemeine Bildungs- und Erziehungsziele: Kinder sollen so früh wie möglich Basiskompetenzen wie Lern- oder Sozialfähigkeit erwerben, eine Sprachförderung sowie Einblicke in naturwissenschaftliche, mathematische und musische Bildung durch spielerisches Lernen erhalten.

„Dieses Gesetz ist kein Meilenstein, sondern ein riesiger Hinkelstein, der auf unseren Kindern lastet“, protestierte dagegen Christa Naaß (SPD). Nach Angaben der SPD sollen künftig mit dem gleichen Geld, das bisher für rund 370.000 Kinder vorgesehen war, bis zu 1,3 Millionen Kinder gefördert werden. „Bei dem Gesetzesentwurf geht es nicht um Verbesserungen bei der Kinderbetreuung, sondern allein ums Sparen zu jedem Preis“, wettert Simone Strohmayer, familienpolitische Sprecherin der SPD. Wo Bildung draufsteht, sei künftig keine Bildung mehr drin: „Die Qualität nimmt ab, die Gruppen werden größer, die Erzieher überlastet und die Elternbeiträge angehoben.“ Und das, obwohl landesweit die Wartelisten auf einen Krippenplatz bereits dreistellig seien. Dadurch, dass Kinder fortan nur noch innerhalb einer Kommune ein Recht auf Betreuung haben, könnten ihre Eltern jene nicht mehr im Nachbarort unterbringen.

Ein solcher Redemarathon, im Fachjargon „Filibuster“ genannt, ist im US-Senat übrigens ein häufig gewähltes Mittel von Minderheiten, die Verabschiedung eines Gesetzes durch die Mehrheitsfraktion zu verhindern – oder wenigstens zu verschieben. Oft wird so lange gesprochen, bis einzelne Senatoren von ihrer Meinung abgebracht werden oder bis Fristen verstreichen. Im Bayerischen Landtag hatte es zuletzt vor gut einem Jahr eine ähnliche Marathonsitzung gegeben – bei der Debatte um den Sparhaushalt 2004. „Wenigstens bei den Redebeiträgen hat die SPD jetzt mal eine Zweidrittelmehrheit“, spottete damals selbst Grünen-Fraktionschef Sepp Dürr.

Auch die „BayKiBiG“-Debatte am Mittwoch stieß bei den Abgeordneten zuweilen nur auf verhaltenes Interesse: Vor allem während der Endrunde im Confed-Cup waren von den insgesamt 180 Parlamentariern zeitweise nur etwa zwei Dutzend im Plenarsaal anwesend. Die Grünen hatten in ihrem Fraktionszimmer eine „Lounge“ eingerichtet, und Sitzungs-Abtrünnigen „BayKiBirinha“-Cocktails serviert. „Sogar Ministerin Stewens hat einen probiert. Das hat uns aber leider nichts geholfen“, verrät Grünen-Sprecherin Paulmichl. Im Gegenteil: Thomas Kreuzer von der CSU kritisierte, der Opposition gehe es bei dem Filibuster und seinem Drumherum nur um Show, nicht um die Sache: „Sie haben kleine Kinder für politische Propaganda missbraucht.“

Dass allerdings protestierende Kinder und Erzieher zur Rede in den Landtag kommen – das hat die CSU verhindert: Während der Debatte durften nur angemeldete Besucher ins Maximilianeum. Petitionen und sonstige Stellungnahmen an die Landtagsabgeordneten mussten jene, beispielsweise Margarete Bause von den Grünen, selbst an der Pforte abholen. Unter Protest: „Wer ein lebendiges Parlament haben möchte, das sich auch als Forum der Bürger versteht, kann die Menschen nicht einfach vor verschlossenen Türen stehen lassen“, sagte Bause. „Das Parlament kann nicht einfach die Schotten dicht machen, nur, weil die Kritik der CSU nicht in den Kram passt.“

Jedenfalls: Um fünf nach zwölf ist die Entscheidung für das Gesetz gefallen. Birgit Stoppelkamp von der Katholischen Erziehergemeinschaft und Mitorganisatorin der Protestdemonstration am Marienplatz hatte das vorhergesehen. Aber: „Damit fahren sie sowieso an die Wand“, fürchtet sie. „Uns bleibt erst mal nichts übrig, als abzuwarten, was passiert. Bei den diversen Nachbesserungen haben wir dann hoffentlich mehr Mitspracherecht. Vielleicht machen wir dann noch was Gescheites daraus. So jedenfalls wird Pisa wieder zum Debakel.“ Von Nadine Nöhmaier

Artikel vom 30.06.2005
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