Bildung für alle - Modernste Ideen mit mehr als 90 Jahren

Stadt-Menschen: In dieser Serie stellen wir in loser Reihenfolge ungewöhnliche Nachbarn vor

»Mehr als 90« und Vorbild für die Münchner Frauenbewegung: Ilse Wirth.	Foto: cta

»Mehr als 90« und Vorbild für die Münchner Frauenbewegung: Ilse Wirth. Foto: cta

Zentrum · »Mehr als 90 Jahre« ist Ilse Wirth alt und damit dienstältestes Mitglied des »Verein für Fraueninteressen«. Aber selbst die gelernte Historikerin unterbietet ihren Verband um zwanzig Jahre, 110-jähriges Jubiläum feiert der im Münchner Zentrum beheimatete Verein in diesem Jahr.

Aber die rüstige Feministin weiß, dass die Jahre nicht immer entscheidend sind. »Ach, schreiben Sie mein genaues Alter nicht, das ist doch unwichtig. Schreiben Sie einfach ‘mehr als 90 Jahre’«, meint sie augenzwinkernd. Bevor Ilse Wirth nach dem Krieg mit ihren drei Töchtern nach Obermenzing kam, studierte sie gegen den Willen ihrer Eltern Geschichte in Berlin und Greifswald. »Studieren hielten meine Eltern für ein Mädchen nicht nötig. Ich musste kämpfen, bis ich auf die Universität durfte.«

Schon damals erkannte die heute noch umtriebige Ilse Wirth, dass Frauen nur durch Bildung ihre Situation ändern und unabhängig werden können. Diese Überzeugung führte sie bei ihrer Ankunft in München 1958 zum Verein für Fraueninteressen. »Der Verein bestand nach dem Krieg nur mehr aus einem kleinen Kreis sehr kluger und zielstrebiger Frauen, die Frauen zu mündigen Bürgern machen wollten mit Mitspracherecht im öffentlichen Leben«, erklärt Ilse Wirth die Situation nach dem Krieg. Es wurde ein Wohnheim für Mädchen gebaut, eine Rechtsschutzstelle eingerichtet und mit kleinen Kiosken Geld erwirtschaftet.

Ein Jahr nach ihrem Beitritt wurde Ilse Wirth in den Vorstand gewählt und versuchte als Historikerin vor allem die staatsbürgerliche Seite des Frauenvereins zu stärken. »Damals wählten die Frauen das, was ihre Männer wählten. Sie hatten kaum politisches Interesse – dabei waren es nach dem Krieg eigentlich sie, die das Leben in Gang hielten.« Nach ihrer Zeit im Vorstand gründete Ilse Wirth den »Staatsbürgerlichen Gesprächskreis«, in dem aktuelle und grundlegende Fragen diskutiert wurden. »Die Frauen sollten sich für ihre Möglichkeiten interessieren und über den Tellerrand blicken«, erklärt sie das Ziel dieser Abende. »Eine eigene Vorstellung darüber zu haben, was man aus seinem Leben machen kann, das war für Frauen bis dahin noch undenkbar.«

Obwohl sie ihr Leben lang für die Rechte der Frauen gekämpft hat, stand für Ilse Wirth immer die Familie an erster Stelle. Durch Heim- und Nachtarbeit hielt sie sich und ihre drei Töchter in den schwierigen Nachkriegsjahren alleine über Wasser und ermöglichte ihnen das Studium. Arbeit, gesellschaftliches Engagement und Familie unter einen Hut zu bringen, gelang ihr nur durch straffe Zeiteinteilung und klare Zielsetzungen. »Die Risiken für Frauen sind auch heute noch groß. Sie müssen Beruf und Familie in Einklang bringen. Bei hohen Führungspositionen bleibt der Familienbereich meist auf der Strecke. Deshalb muss es mehr Einrichtungen geben, die es den Frauen ermöglichen früh Kinder zu bekommen und trotzdem weiter an ihrer Karriere zu arbeiten. Kindergärten und Ganztagsbetreuung sind notwendig, damit Familien gegründet werden, in denen sich auch die Frauen verwirklichen können.«

Zu seinem Jubiläum ist die Existenz des Frauenvereins also so aktuell wie vor 110 Jahren – und die Anregungen einer »mehr als 90-Jährigen« sind so brisant wie nie. Christine Auerbach

Artikel vom 27.05.2004
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