Andrea Betz analysiert den Koalitionsvertrag

Bringen die Pläne der Ampel-Koalition mehr soziale Gerechtigkeit?

Wieviel "Aufbruch" bringt die neue Bundesregierung für die Menschen vor Ort? Andrea Betz hat sich wichtige Punkte im Koalitionsvertrag angesehen. Foto: Innere Mission

Wieviel "Aufbruch" bringt die neue Bundesregierung für die Menschen vor Ort? Andrea Betz hat sich wichtige Punkte im Koalitionsvertrag angesehen. Foto: Innere Mission

München · Andrea Betz ist bei der Diakonie München und Oberbayern im Vorstand eines der größten Sozialunternehmen unter anderem für die Armutsbekämpfung, Kinder und Jugendliche und Migration zuständig. Als sozialpolitische Vorständin hält sie die Pläne der neuen Regierung für ambitioniert, sagt aber, dass es genau das braucht, um die sozialen Folgen der Corona-Pandemie zu bewältigen. Wo sie im Koalitionsvertrag richtige Impulse aber auch Nachbesserungsbedarf sieht, fasst sie in ihrem Gastbeitrag anhand einiger wichtiger Punkte zusammen.*

Armut

Die Ampel-Parteien haben vereinbart, dass es statt Hartz IV künftig ein Bürgergeld geben soll. Allerdings haben sie noch nicht festgelegt, wieviel Geld die Menschen künftig bekommen sollen. Aktuell liegt der Regelsatz für eine alleinstehende Person bei 446 Euro. Gerade in der teuren Metropolregion München und mit Blick auf steigende Energiepreise ist das viel zu wenig. Darum ist aus unserer Sicht wichtig, dass sich nicht nur der Name der Leistung ändert, sondern auch deren Höhe. Immerhin: Die neue Regierung plant im Koalitionsvertrag eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro. Damit verbessert sich nach unserer Auffassung die Chance, dass Menschen von ihrer Arbeit auch leben können.

Wohnungslosigkeit und Wohnen

Die Koalition will einen Nationalen Aktionsplan zur Überwindung von Obdach- und Wohnungslosigkeit auflegen, um die Obdachlosigkeit bis 2030 abzuschaffen. Ein ehrgeiziges Ziel, das nur erreicht werden kann, wenn auch dem Bekenntnis zum sozialen Wohnungsbau Taten folgen. Zwar will die neue Regierung die Mittel hierfür erhöhen, perspektivisch wird das jedoch den Bedarf an Sozialwohnungen nicht decken. Denn: Aktuell fallen jährlich etwa 80.000 Sozialwohnungen aus der Bindung, während nur circa 25.000 neue Sozialwohnungen entstehen. Leider sieht der Vertrag auch keine ausreichenden Instrumente vor, um Wohnen im Bestand günstiger zu machen. München braucht da dringend Unterstützung der Bundespolitik im Bereich der Bodenrechtsreform, um dauerhaft bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.

Der Koalitionsvertrag sieht außerdem eine Stärkung des Mieter*innenrechts vor: Die bundesweite Mietpreisbremse soll weiter angehoben werden – in sogenannten „angespannten Wohnungsmärkten“ sollen die Mieten demnach innerhalb von drei Jahren nur noch um 11 Prozent steigen dürfen, bisher waren es 15 Prozent. Eigentlich dürften die Mieten in München aktuell überhaupt nicht mehr steigen. Der Grund: Es gibt bereits weit mehr als 9.000 wohnungslose Menschen in der Metropole, die sich die teuren Mieten nicht leisten können.

Kinder und Jugendliche

Die neue Regierung will unter anderem erstmals eine Kindergrundsicherung einführen, Ganztagsangebote und Schulsozialarbeit ausbauen sowie die Kinderrechte im Grundgesetz verankern. All das sind aus unserer Sicht wichtige und richtige Maßnahmen gegen Kinderarmut und dafür, das Recht der Kinder auf Förderung in den Fokus zur rücken. Das gilt vor allem mit Blick auf die Folgen der Corona-Krise. Wir beobachten in unserer Arbeit, dass viele Kinder und Jugendliche wegen der Pandemie unter Bildungs- und Entwicklungsdefiziten leiden. Das trifft vor allem die, die schon vor der Krise sozial benachteiligt waren. Darum begrüßen wir die Pläne der Regierung. Wir sehen sie als Grundlage dafür, Kinder und Jugendlichen Teilhabe unabhängig von ihrer Herkunft und den finanziellen Möglichkeiten ihrer Familien zu ermöglichen.

Migration

Die Ampel-Parteien planen unter anderem, künftig Hürden beim Familiennachzug für alle Geflüchteten abzubauen. Die bisherige Praxis führt dazu, dass immer wieder Familien getrennt werden. Das Problem: Solange die Bearbeitung der Visumanträge zum Teil Jahre dauert, bleiben sie nahezu wirkungslos. Die Visumsverfahren müssen daher massiv beschleunigt werden.

Außerdem will die neue Bundesregierung das Konzept der ANKER-Zentren nicht weiterverfolgen. Wir fordern, dass auch Bayern daran anknüpft, und seine 31 ANKER-Zentren abschafft.

Ferner möchten die Regierungsparteien lebensgefährliche Fluchtwege, illegale Zurückweisungen und das Leid an den EU-Außengrenzen beenden. Konkrete Maßnahmen, wie sie das erreichen möchten, beschreiben sie im Koalitionsvertrag allerdings nicht.

Unser Fazit: Wenn die Pläne der Ampel-Koalition umgesetzt werden, kann sich in den nächsten Monaten und Jahren einiges für geflüchtete Menschen verbessern. Die Vorhaben jedoch als „Neuanfang“ zu bezeichnen, wie es die Regierungsparteien in ihrem Koalitionsvertrag tun, ist jedoch nach unserer Einschätzung übertrieben.

Artikel vom 27.12.2021
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