Bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern ist die Aufgabe der Literatur

München · Geschwister Scholl Preis verliehen

Michael Then, Vorsitzender des Börsenvereins und 2. Bürgermeisterin Katrin Habenschaden (r.) übergaben den Geschwister Scholl Preis an Dina Nayeri. Foto: Robert Bösl

Michael Then, Vorsitzender des Börsenvereins und 2. Bürgermeisterin Katrin Habenschaden (r.) übergaben den Geschwister Scholl Preis an Dina Nayeri. Foto: Robert Bösl

München · In München wurde jetzt die Preisverleihung des Geschwister-Scholl-Preises von 2020 nachgeholt. 2. Bürgermeisterin Katrin Habenschaden übergab die Urkunde an die Preisträgerin Dina Nayeri, begleitet von Michael Then, dem Vorsitzenden des Börsenvereins. Sie wurde für ihr Buch: "Der undankbare Flüchtling" ausgezeichnet.

Dina Nayeri wurde während der Islamischen Revolution im Iran geboren und emigrierte als Zehnjährige in die USA. In Princeton absolvierte sie ihren BA, in Harvard ihren MBA und Master of Education. Sie hat zwei weitere Romane geschrieben, "Drei sind ein Dorf" (2018) sowie das Debüt "Ein Teelöffel Land und Meer" (2013), das in 14 Sprachen übersetzt wurde. Dina Nayeri wohnt in Paris.

Die ursprünglich für den 30. November 2020 geplante, feierliche Verleihung in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität München konnte bedauerlicher Weise nicht stattfinden. Jetzt wurde die feierliche Verleihung nachgeholt. Die iranisch-amerikanische Schriftstellerin Dina Nayeri erinnert mit ihrem Buch "Der undankbare Flüchtling" an eines der wichtigsten globalen Themen unserer Zeit: Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) waren im vergangenen Jahr weltweit 79,5 Millionen Menschen auf der Flucht.

26 Millionen von ihnen flohen aus ihrer Heimat vor bewaffneten Konflikten, Kriegen oder schweren Menschenrechtsverletzungen. Die Zahl der Geflüchteten nimmt seit Jahren beständig zu und wird nicht zuletzt mit den wachsenden Auswirkungen des Klimawandels weiter steigen.

Dazu Oberbürgermeister Dieter Reiter: "Zum 41. Mal vergab damit die Landeshauptstadt München zusammen mit dem Landesverband Bayern des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels den Geschwister-Scholl-Preis und prämiert damit ein Buch, „das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen und intellektuellen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben“. Und das dabei im weitesten Sinne an das Vermächtnis der Geschwister Scholl erinnert.

„Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt!“ Das steht im fünften Flugblatt der Weißen Rose und ist die eindringliche Aufforderung, sich gegen die Nazi-Barbarei zu stellen. Und tätiges Mitgefühl zu üben mit denen, die erniedrigt, ausgestoßen und entmenschlicht werden. Auch wir sind aufgefordert, nicht gleichgültig und unempfänglich zu werden gegenüber dem Leid der anderen, gegenüber dem Leid der sterbenden Flüchtlinge auf dem Mittelmeer und in den überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln. Zwar kann sich München durchaus einiges auf seinen vorbildlichen Umgang mit Migrantinnen und Migranten seit dem Herbst 2015 zugutehalten, von der Aufnahme und der Beratung über die Sprach- und Integrationskurse bis zur medizinischen Versorgung und den vergleichsweise guten Chancen auf ein Job. Aber das ändert freilich nichts daran, dass Europas ebenso unzulängliche wie unsolidarische Migrationspolitik insgesamt der gebotenen Menschlichkeit widerspricht. Dass diese Menschlichkeit eigentlich stets an erster Stelle stehen und uns über alle kulturellen Unterschiede hinweg selbstverständlich sein sollte, daran erinnert uns die Schriftstellerin und Publizistin Dina Nayeri mit ihrem Buch „Der undankbare Flüchtling“ sehr eindringlich.

Ganz so wie es auch im „Globalen Pakt für Migration“ von 2018 betont wird, dass der Mensch nämlich auch auf der Flucht und als Vertriebener Mensch bleibt und Anspruch darauf hat, in seiner Menschenwürde geachtet zu werden. Man sollte es sich immer wieder vor Augen führen: Niemand flieht freiwillig. Immer mehr Menschen werden weltweit vertrieben und fliehen vor Gewalt, staatlicher Verfolgung, Kriegen oder Diskriminierung. Hinzu kommen Armut, Hunger, Naturkatastrophen und zunehmend auch die Auswirkungen des Klimawandels.

Ende 2019 waren nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR weltweit rund 80 Millionen Menschen auf der Flucht. Auch bei uns hat der Zuzug von Geflüchteten jahrelang die politische Debatte bestimmt. Inzwischen sinken die Zahlen wieder. Und vielleicht steigt damit ja auch die Bereitschaft, uns klarer zu werden über unsere berechtigten Erwartungen an Migrantinnen und Migranten, aber auch über stereotype Vorbehalte, überzogene Vorstellungen und egoistische Forderungen. Etwa die nach Dankbarkeit. Die nämlich ist uns keiner der Geflüchteten schuldig – das ist der Kern von Dina Nayeris Buch.

Es ist kein Verdienst, in die reiche Welt hineingeboren zu werden, in Wohlstand und Sicherheit. Es ist vielmehr ein Geschenk, eines, das uns Verpflichtung sein sollte, auch an die anderen zu denken und die Arme zu öffnen für diejenigen, die diesen Vorteil im Leben nicht haben. Denn haben es die nicht schon schwer genug, die gezwungenermaßen von zuhause fortgehen und in ein fremdes Land kommen als Fremde? Der große Münchner Philosoph, und das ist hierbei nicht zu hoch gegriffen, Karl Valentin hat vor genau 80 Jahren seinen berühmten Dialog von den Fremden eingespielt. Und darin heißt es bekanntlich: „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“. Womit Karl Valentin die ebenso einfache wie komplexe Tatsache vor Augen führt, dass jeder gleichzeitig irgendwo fremd ist und irgendwo zuhause. Es kommt nur auf den Standpunkt und die Perspektive an. Vielleicht sollten wir unseren Blickwinkel gelegentlich ändern, um zu erkennen, wie nah sich Fremdsein und Vertrautsein eigentlich sind und wie flüchtig diese Zustände an sich. Um Fremdheit nicht als Bedrohung zu empfinden, sondern vielmehr als Bereicherung und deshalb nicht mit Abwehr, Angst und Vorurteil zu reagieren, sondern mit Offenheit, Neugier und Mitgefühl. Nur so lässt sich die vielgepriesene Begegnung auf Augenhöhe überhaupt erreichen. Und damit auch die Einsicht, dass es bei diesem Dialog am allerwenigsten um Dankbarkeit geht."

Und darum geht es in diesem Buch: In einem Streit mit ihrem Bruder, der um das Thema Assimilation kreiste, wurde ihr klar, welches Muster jeder Flüchtlingsbiografie zugrunde liegt: Egal, wo man herkommt, egal, wer man war, was man kann, die Erwartung von außen ist dieselbe: Schätze dich glücklich, dass wir dich aufgenommen haben. Opfere deine frühere Identität. Werde jemand, der unseren Ansprüchen genügt. Spannend wie in einem Episodenfilm verknüpft Dina Nayeri ihre eigene wendungsreiche Geschichte mit der von anderen Migranten. Sie erzählt von deren Schicksalen und stellt dringende, provokante Fragen nach Identität, Dankbarkeit, Würde und Verantwortung. Sie unterzieht die Rolle des Westens einer kritischen Betrachtung und gibt der Diskussion über Migranten und Migration neue Impulse. Ihr Ziel: dass der Westen seine grundlegenden Prämissen über Migration überdenkt.

Artikel vom 12.10.2021
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