"Keiner geht verloren"

Im Gespräch mit Anette Farrenkopf vom Jobcenter München

"Trotz Corona ist es uns in diesem Jahr gelungen, rund 95 Prozent der Jugendlichen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, einen Ausbildungsplatz zu vermitteln", resümiert Anette Farrenkopf, Geschäftsführerin des Jobcenter München. F.: Martin Hangen

"Trotz Corona ist es uns in diesem Jahr gelungen, rund 95 Prozent der Jugendlichen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, einen Ausbildungsplatz zu vermitteln", resümiert Anette Farrenkopf, Geschäftsführerin des Jobcenter München. F.: Martin Hangen

München · Rund 70.000 Münchner sind mittlerweile auf die regelmäßigen Leistungen des Jobcenters angewiesen. Viele von ihnen trifft die Corona-Krise hart. Anette Farrenkopf, Geschäftsführerin des Jobcenters München, erklärt im Gespräch mit Johannes Beetz, wie sich ihre Mitarbeiter darauf eingestellt haben.

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"Die vergangenen Monate waren außerordentlich intensiv"

Wochenblatt: Zu Beginn der Corona-Pandemie im März hat das Jobcenter schnell reagiert und viele Vorgänge angepasst und vereinfacht, um die Menschen unbürokratisch zu unterstützen. Wie sind Ihre Erfahrungen damit?

Anette Farrenkopf: Ja, die Wucht der Corona-Krise hat auch uns völlig überrascht und alles auf den Kopf gestellt. Binnen kurzer Zeit ist die Zahl der Neuanträge bei uns in die Höhe geschnellt. Rund 70.000 Münchner sind mittlerweile auf unsere regelmäßigen Geldleistungen angewiesen. Neben dem Gesundheitsschutz unserer Beschäftigten und der Kunden mussten wir all unsere Aktivitäten und organisatorischen Prozesse auf die pünktliche und korrekte Auszahlung von Geldleistungen ausrichten.
Dank des engen Schulterschlusses zwischen allen städtischen Sozialpartnern konnten wir rasche und pragmatische Lösungen für die Menschen in unserer Stadt bieten. Zugleich profitieren wir jetzt in der Krise von unserer frühzeitigen Umstellung von analogen Behördenabläufen auf digitale Verwaltungsprozesse. Ich hoffe, dass wir den kräftigen Schub bei der Digitalisierung beibehalten können.

Viele Menschen blicken mit Sorge in die Zukunft – vielleicht mehr noch als im Frühjahr. Welche Personengruppen sind von dem zu erwartenden wirtschaftlichen Abschwung besonders betroffen?

Anette Farrenkopf: Die Wirtschaftskrise trifft vor allem die Gruppe der Geringqualifizierten und der Solo-Selbstständigen. München ist von der Corona-Krise ganz besonders betroffen. In unserer Stadt ist der Anteil der Beschäftigten im Dienstleistungsbereich und in der Kultur- und Eventszene eben sehr hoch. Nun bleiben die Touristen aus, Veranstaltungen und Messen werden abgesagt. Vor allem das Gastronomie- und Hotelgewerbe ist schon arg gebeutelt.

Viele Betriebe haben staatliche Hilfen bekommen, andere kommen dank Kurzarbeit über die Runden. Selbstständige haben solche Möglichkeiten nicht. Fallen sie durchs Raster?

Anette Farrenkopf: In der Grundsicherung fällt keiner durchs Raster. Die Bundesregierung hat mit dem Sozialschutzpaket ein Unterstützungsangebot mit vereinfachtem Antragsverfahren geschaffen, von dem alle Menschen, die jetzt in finanzielle Schieflage geraten sind, unmittelbar profitieren. Im Übrigen beziehen ja auch Kurzarbeitende, deren reduzierter Lohn plötzlich nicht mehr ausreicht, Leistungen aus der Grundsicherung.
Es ist aber auch richtig, dass bei Solo-Selbstständigen und Geringqualifizierten die prekären Einkommensverhältnisse, die geringe soziale Sicherung sowie instabile Beschäftigungsverhältnisse schon seit längerem ein Thema sind. Durch die Krise hat sich die Situation nun weiter zugespitzt.

Home Office und Digitalisierung wurden in der Krise fast schon "Zauberwörter". Aber viele Tätigkeiten gehen nicht zuhause – etwa Taxifahren, Reinigungsberufe oder Gastronomie. Wie reagiert das Jobcenter?

Anette Farrenkopf: Wir reagieren prompt und mit einer Qualifizierungsoffensive. Dabei ist es unser primäres Ziel, Solo-Selbstständige und Geringqualifizierte zu unterstützen, ihre schwierige Erwerbs- und Lebenssituation zu verbessern und eine existenzsichernde Erwerbstätigkeit zu schaffen.

Viele Unternehmen sind vorsichtig in der Krise. Besonders hart trifft es junge Leute am Anfang ihres Berufslebens, da weniger Ausbildungen begonnen wurden. Wie kann das Jobcenter diese Menschen unterstützen?

Anette Farrenkopf: Keiner geht verloren. Trotz Corona ist es uns in diesem Jahr gelungen, rund 95 Prozent der Jugendlichen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, einen Ausbildungsplatz zu vermitteln. Für Jugendliche ohne Ausbildungsplatz bieten wir die Möglichkeit zu einer Einstiegsqualifizierung. Das kann man sich am besten wie ein sechs- oder zwölfmonatiges Praktikum vorstellen. In einem betrieblichen Umfeld lernen sich Bewerber und Arbeitgeber kennen. Nicht selten mündet diese Qualifizierung dann in ein Ausbildungsverhältnis. Der Jugendliche erhält auch eine Praktikumsvergütung und ist sozialversichert. Gleichzeitig kann die Praktikumszeit auf die Ausbildungsdauer angerechnet werden.

Das Jobcenter ist für viele Menschen, die von den Folgen der Pandemie besonders hart getroffen sind, ein wichtiger Anker. Für Ihre Mitarbeiter bedeutet dies sicherlich nicht nur eine Belastung durch Mehrarbeit, sondern auch ganz persönlich. Wie gehen sie damit um?

Anette Farrenkopf: Die vergangenen Monate waren und sind für meine Mitarbeiter außerordentlich intensiv. An vielen Stellen in unserer Organisation haben wir uns in kürzester Zeit geradezu neu erfinden müssen. Wir haben Verfahrensprozesse und Kontaktwege grundlegend angepasst, neue Schwerpunkte für unsere tägliche Arbeit definiert und uns auf gravierende Veränderungen im Sozialsystem eingestellt. Dass sich die Stärken einer Organisation gerade in Krisenzeiten zeigen, haben wir eindrucksvoll demonstriert. Gute Leute muss man eben haben. Und die haben wir!

Artikel vom 04.12.2020
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