Gedanken zu Weihnachten von Pfarrer Jochen Wilde, Kreuzkirche

Schwerer Gang auch heute

"Schwerer Gang" des Münchner Malers Fritz von Uhde 1890. Zu sehen in der Neuen Pinakothek (noch bis zum 30. Dezember 2018 geöffnet und dann fünf Jahre wegen Sanierungsarbeiten geschlossen). F.: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Neue Pinakothek, München

"Schwerer Gang" des Münchner Malers Fritz von Uhde 1890. Zu sehen in der Neuen Pinakothek (noch bis zum 30. Dezember 2018 geöffnet und dann fünf Jahre wegen Sanierungsarbeiten geschlossen). F.: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Neue Pinakothek, München

Schwabing · In der heraufziehenden Dämmerung geht ein ärmliches Paar schweren Schrittes einen schlammigen Weg entlang. Der Mann – an seiner seitlich herabhängenden Säge als Zimmermann zu erkennen – stützt seine offensichtlich schwangere Frau. Schwer trägt sie an ihrem Korb.

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Am linken Straßenrand sind ein paar einfache Häuser zu erkennen. Rechts des Weges verläuft ein schmaler, weidenbestandener Bach. In einiger Entfernung zeichnen sich die Umrisse einer kleinen Kapelle ab, aus der ein schwacher Lichtschein nach außen dringt. So verlassen die Landschaft wirkt – so verloren fühlen sich diese beiden! Immerhin haben sie einander und stützen sich gegenseitig. Eine Andeutung menschlicher Nähe, eine wärmende Geste inmitten einer kalten und unwirtlichen Welt.

„Schwerer Gang“ – ein Gemälde des lange Zeit in München lebenden Künstlers Fritz von Uhde aus dem Jahr 1890. Die Szene spielt in Augustenfeld, einem Vorort von Dachau, wo das Arbeiterpaar auf der Suche nach einem Unterschlupf ist. In diesen Jahren war ein Drittel aller Handwerker arbeitslos. Werkstätten wurden aufgelöst und die Produktion in große Fabriken mit billigen Arbeitskräften verlegt. Die Industrialisierung entzog ihnen die Existenzgrundlage. Der Weg von der Arbeitslosigkeit in die Obdachlosigkeit war erschreckend kurz!

Es ist dasselbe Jahr, in dem auch unser Stadtteil nach München eingemeindet wurde. Im Jahre 1890 sah auch Schwabing noch ganz ländlich und dörflich aus. Erst ab 1900 wurde die Stadt nach Nordwesten erweitert, entstanden jene städtischen Altbauten, die Schwabing inzwischen so begehrt machen. Heute entsteht hier kaum noch neuer Wohnraum, dafür wird der bestehende immer teurer. Manche Alteingesessene fühlen sich dadurch in ihrer Existenz bedroht. An der Wohnungsnot hat sich offensichtlich auch 130 Jahre später wenig geändert.

„Schwerer Gang“ – das Gemälde trägt noch einen zweiten, den ursprünglichen Titel: „Der Gang nach Bethlehem“. Das Publikum sah darin jedoch eine Entweihung des christlichen Glaubens und lehnte das Bild zunächst ab.

Bis heute entzündet sich der Konflikt an dieser Frage: ob und inwieweit die Weihnachtsgeschichte ihr politisches und gesellschaftskritisches Potential ausspielen darf oder gar muss! Besinnlichkeit versus Besinnung, Gemütlichkeit versus Gesellschaftskritik, himmlische Heerscharen versus irdische Armeen. Vermutlich gehört beides irgendwie zusammen. Jedenfalls wäre Weihnachten ein belangloses und bedeutungsloses Fest – wenn es nichts mit unserer Lebenswirklichkeit, mit unserer Gegenwart zu tun hätte! Genau aus diesem Grund lässt Fritz von Uhde das hochheilige Paar über die bedrückende Moorlandschaft vor Augustenfeld bei Dachau gehen.

Weihnachten wäre aber auch nicht Weihnachten, wenn nicht etwas sichtbar und spürbar würde von jenem verheißungsvollen Licht, das ja auch in Uhde’s Bild aufscheint, wenn auch schwach und wie von ferne.

Den Künstler scheint genau diese Frage sehr beschäftigt zu haben: Wo finde ich Hoffnung und Trost? Wie könnte das einsame Paar so etwas wie eine Perspektive für die Zukunft finden?

In einer früheren Studie zu seinem Bild lässt von Uhde aus den Fenstern der beiden Häuser zur Linken ein strahlend helles Licht hervorleuchten – während bei seinem endgültigen Werk jenes Hoffnungslicht wie von ferne nur ganz schwach leuchtet. Wie im richtigen Leben ist die Hoffnung mal zum Greifen nahe – und dann wieder scheint sie weit weg zu sein!

„Jeder Mensch“ – so singt Herbert Grönemeyer in seinem neuen Album „Tumult“ – „braucht einen Zufluchtsort, einen Fluchtpunkt“ – wir könnten auch sagen: ein solches „Hoffnungslicht“.

Und schließlich wäre Weihnachten nicht Weihnachten ohne jene Zeichen der Menschlichkeit und Solidarität, jene Gesten der Hilfsbereitschaft, die ja auch in Uhde’s Bild nicht fehlen. Zu keiner Zeit im Jahr denken wir so sehr an unsere Nächsten wie in diesen vorweihnachtlichen Tagen, zeigt unsere Gesellschaft ein derart menschenfreundliches Gesicht.

Mag sein, dass der Kultursoziologe Andreas Reckwitz Recht hat, wenn er unsere spätmoderne Gesellschaft als eine „Gesellschaft der Singularitäten“ identifiziert.

Mit unglaublichen Aufstiegschancen und riesigem Entwicklungspotenzial. Aber auch mit einer extrem hohen „Enttäuschungsanfälligkeit“ und entsprechend gefährlicher Fallhöhe für die Verlierer von heute und morgen. Vor 130 Jahren stand plötzlich ein Drittel der Handwerker buchstäblich auf der Straße. Wer wird womöglich morgen auf der Straße stehen und muss sehen, wo er oder sie bleibt!?

Umso wichtiger wäre es, diejenigen nicht aus den Augen zu verlieren, die auf dem Weg von der „klassischen Industriegesellschaft“ zur „spätmodernen Gesellschaft“ auf der Strecke bleiben! Umso wichtiger wäre es, die zunehmende Ungleichheit auszugleichen oder zumindest abzufedern, um ein weiteres gesellschaftliches Auseinanderdriften zu verhindern!

Das wird ein „schwerer Gang“, gewiss! Nicht leichter als vor 130 Jahren, nicht leichter als vor mehr als 2.000 Jahren in Bethlehem! Aber dass es gelingen kann, ist die verheißungsvolle Botschaft von Weihnachten.

Pfarrer Jochen Wilde
Evang. Kreuzkirche München-Schwabing

Artikel vom 24.12.2018
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