oder: Gehören Wildschweine immer noch in den Sondermüll?

München · Tschernobyl heute noch?

Frenzel war 1990 vier Wochen in betroffenen Republiken, u.a. im Sperrgebiet und arbeitet heute noch mit Unis der Ukraine und Belarus zusammen. Bild re.: Frenzel mahnt Katastrophe und Folgen, auch im heutigen Bayern, niemals zu vergessen. F: Frenzel/dm

Frenzel war 1990 vier Wochen in betroffenen Republiken, u.a. im Sperrgebiet und arbeitet heute noch mit Unis der Ukraine und Belarus zusammen. Bild re.: Frenzel mahnt Katastrophe und Folgen, auch im heutigen Bayern, niemals zu vergessen. F: Frenzel/dm

München · Sie haben drei Stunden Zeit, um einen einzigen Koffer zu packen und Ihr Haus und Ihre Haustiere höchstwahrscheinlich für immer zu verlassen. Es wird ein Bus oder LKW kommen, der Sie irgendwo hinbringt.

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Irgendwo. – Dieses Evakuationsdrama spielte sich in der Ukraine und Belarus ab, nachdem Block 4 des Kernkraftwerks in Tschernobyl explodierte und dabei radioaktive Nuklide freisetzte. Dies ist fast 32 Jahre her und 1.800 Kilometer weit weg. Was hat das also mit München und Bayern im Jahr 2018 zu tun?

Dr. h. c. Christine Frenzel hat dazu vergangenen Mittwoch Abend einen Vortrag im Wirtshaus am Hart gehalten, Veranstalter war der Verein »Zukunft am Hart« bei dem sie Vorsitzende ist. An dem Abend kam sie aber in ihrer Rolle als stellvertretende Vorsitzende des Vorstands des Otto Hug Strahleninstituts für Gesundheit und Umwelt in München und Laborleiterin für Radioökologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, um über ein Thema zu sprechen, das uns alle betrifft: ob Harthof, Moosach oder das Münchner Zentrum. Das Ambiente der Gaststätte gemütlich-urig, das Thema aber keine leichte Kost: die Situation nach dem Super-GAU damals und heute.

Am stärksten wurde von den betroffenen drei Republiken in der Sowjetunion die Republik Belarus belastet.

Radioaktivität kennt kein Stopp-Schild

Von den betroffenen Landflächen liegen etwa 70 Prozent in Belarus und je 15 Prozent in der Ukraine und im angrenzenden Russland. Die radioaktive Wolke wurde angeblich von den Verantwortlichen über weniger dicht besiedelte Gebiete in Belarus »abgeregnet« die Gebiete sind bis heute größtenteils nicht mehr bewohn- und bewirtschaftbar. Über Regen freut man sich in Bayern generell sowieso nicht besonders und dann traf es ausgerechnet den Freistaat, als eine große Regenwolke die Radioaktivität mitunter nach Bayern brachte und sie dort als Niederschlag verteilte. Dieses nasse und vor allem verheerende Ereignis geschah in Bayern am 30. April 1986, also vier Tage nach dem Reaktorunfall. Die radioaktive Wolke aus Tschernobyl verteilte ihre »Fracht« zehn Tage lang über große Teile Europas.

»Von Tschernobyl bis München: Das ist keine Entfernung für eine »radioaktive Wolke« so die Expertin, »Radioaktivität kennt keine Grenzen und kein Stopp-Schild.« Und so fiel vor gut dreißig Jahren die Radioaktivität auch auf Bayern. Auf die Wiesen, deren Gras die Kühe fraßen, in die bayerischen Wälder, in denen Pilzfreunde Maronenpilze und Pfifferlinge sammelten und auch in die Sandkästen, in denen Kinder spielten. Panik machte sich breit. Tschernobyl hatte die Bayern enorm verunsichert. »Mütter kamen zu mir, um zu fragen, ob sie ihre Muttermilch den Säuglingen geben konnten« erinnert sich Frenzel, die damals am ehemaligen Strahlenbiologischen Institut der Universität war. Dies wurde 2008 geschlossen, da es von offizieller Seite keine Notwendigkeit mehr für das Fachinstitut gäbe. Das sieht sie anders.

»Die radioaktiven Nuklide zerfallen, aber sie sind immer noch da« konstatiert Frenzel. Das Cs-137 bei uns in Bayern geht immer tiefer in die Erde, dort, wo auch Wildschweine wühlen. Messungen ergeben, dass zirka dreißig Prozent aller erlegten Wildschweine etwa in Schwaben und Niederbayern zum Verzehr nicht geeignet sind. Rund ein Drittel weise kontaminiertes Fleisch auf. Für Lebensmittel gibt es nämlich festgelegte Grenzwerte, wie belastet sie sein dürfen. Diese wurden nach der Katastrophe ohnehin angepasst. Diese Werte werden in Becquerel pro Kilogramm oder Liter gemessen. Der Grenzwert für Säuglingsnahrung und Milchprodukte ist auf 370 Bq/kg und für andere Lebensmittel auf 600 Bq/kg festgelegt.

Heute kann man in Bayern durchaus Pfifferlinge mit 1500/kg und Maronenpilze sogar mit 2000 Bq/kg und mehr finden. »Wie oft kommt es vor, dass ein Wildschwein erlegt wird, nicht gemessen und doch getrost aufgetischt wird. Wenn sie es wollen, können die Jäger es ja selber essen, aber statt es sich selbst, den Kindern oder Freunden zu geben, sollten sie es lieber entsorgen lassen.«

Vom Freistaat bekommen die Jäger für belastetes Wild eine Entschädigung. Dadurch, dass für das Wildschwein der Hirschtrüffel eine Delikatesse ist und dieser da wächst, wo sich das Cs-137 im Boden befindet, überschreitet eben sein Fleisch oftmals die zulässigen Grenzwerte. Daher ist Vorsicht bei Wildschwein- und Pilzkonsum geboten.

Allerdings gibt Frenzel Entwarnung bei den Gartlern: »Das Anbauen von Lebensmitteln ist bei uns in Bayern kein Problem, zumal der Boden immer und immer wieder bearbeitet wurde. Nur in der GUS ist es immer noch sehr bedenklich. Dann hebt sie ihr Messgerät für Radioaktivität hoch und beweist: In der Luft befindet sich keine Radioaktivität. Die Luft ist sozusagen »rein«. »Und nein, Sie müssen sich auch nicht jeder so ein Gerät zulegen.«

Die Laborleiterin für Radioökologie macht insgesamt deutlich: In Bayern sind die belasteten Gebiete erfasst, jeder kann sich daran orientieren. »Auch nach Fukushima hat sich daran nichts geändert, denn da ist nichts oder nur minimal etwas in Europa angekommen.

Die Hoffnung, dass nix passiert, bleibt

Allerdings möchte ich darauf hinzuweisen, dass wir noch vier Atomkraftwerke um uns herum haben. »Kernkraftwerke können nicht sicher sein. Technik generell kann nicht 100 Prozent sicher sein. Ein Flugzeug kann ja auch abstürzen, ein Zug entgleisen. Darüber sollten wir uns im Klaren sein." Panik ist keineswegs angebracht, aber ihrer Meinung nach ist das Thema Tschernobyl zu sehr in die Vergangenheit und in Vergessenheit geraten. Vieles wäre auch vertuscht »und die Leute verschaukelt worden«.

UN-Organisationen behaupten nach wie vor, dass es kaum Zusammenhänge zu Krebsfällen nach Tschernobyl gäbe, doch Zahlen sagen etwas anderes. Zwar gibt es in Deutschland kein entsprechendes Krebsregister und keine Vergleichsbasis, aber in direkt betroffenen Ländern wie Belarus steigen die Krankheitszahlen nach der Katastrophe – immer noch. Etwa Schilddrüsenkrebs bei Erwachsenen, die zum Zeitpunkt des Super-GAUs Kinder waren. »Das ist kein Zufall! Es ist nicht wahr, dass Gesundheitsstörungen einer Strahlenbelastung nicht direkt zugeordnet werden können« erklärt sie. Ob es Zusammenhänge auch in Bayern geben kann? »Es kann sein, muss aber nicht.«

Sie beendet den Vortrag mit: »Hoffen wir dass nix passiert – die Hoffnung stirbt zuletzt.« Weitere Informationen im Internet unter www.ohsi.de Von Daniel Mielcarek

Artikel vom 28.03.2018
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