Sie haben überlebt

Dorfen: Sondervorstellung einer Kino-Doku über die Shoa

Zurück in Wroclaw: Anita Lasker-Wallfisch erzählt Jugendlichen im Gefängnishof von ihrer eigenen Jugend im einstigen Breslau.	Foto: Karin Kaper Film

Zurück in Wroclaw: Anita Lasker-Wallfisch erzählt Jugendlichen im Gefängnishof von ihrer eigenen Jugend im einstigen Breslau. Foto: Karin Kaper Film

Dorfen · Der Tag, an dem alles über die Shoa gesagt wurde, wird nie kommen. Der Tag, an dem der letzte Zeitzeuge für immer die Augen schließen wird, rückt immer näher. Umso wichtiger ist es, authentische Zeitzeugenberichte eines der einschneidensten Kapitel der Weltgeschichte zu konservieren, darüber zu sprechen und die Tragweite menschlichen Handelns auch im 21. Jahrhundert einzuordnen.

Das ist das Ansinnen der Filmemacher Karin Kaper und Dirk Szuszies, die mit dem Film »Wir sind Juden aus Breslau« etwas Bleibendes über Ereignisse aus der Vergangenheit geschaffen haben. Der Film wird in einer Sondervorführung am Sonntag, 19. November, um 17 Uhr im Kino im ­Jakobmayer Dorfen gezeigt. Der Eintritt kostet 8 Euro. Regisseurin Karin Kaper wird anwesend sein und im Anschluss an die Vorführung für Fragen und Diskussionen mit dem Publikum zur Verfügung stehen.

In dem Film berichten Juden von ihren Erlebnissen im Breslau der 30er- und 40er-Jahre. Sie waren jung, blickten erwartungsfroh in die Zukunft, fühlten sich in Breslau, der Stadt mit der damals in Deutschland drittgrößten jüdischen Gemeinde, beheimatet. Dann kam Hitler an die Macht. Ab diesem Zeitpunkt verbindet diese Heranwachsenden das gemeinsame Schicksal der Verfolgung durch Nazi-Deutschland als Juden: Manche mussten fliehen oder ins Exil gehen, einige überlebten das Konzentrationslager Auschwitz. Der Heimat endgültig beraubt, entkamen sie in alle rettenden Himmelsrichtungen und bauten sich in den USA, England und Frankreich ein neues Leben auf. Nicht wenige haben bei der Gründung und dem Aufbau Israels wesentlich mitgewirkt.

14 Zeitzeugen stehen im Mittelpunkt des Films. Sie erinnern nicht nur an vergangene jüdische Lebenswelten in Breslau. Ihre späteren Erfahrungen veranschaulichen eindrücklich ein facettenreiches Generationenporträt. Einige von ihnen nehmen sogar den Weg in die frühere Heimat auf sich, reisen nach Wroclaw, dem früheren Breslau, wo sie einer deutsch-polnischen Jugendgruppe begegnen. Gerade in Zeiten des zunehmenden Antisemitismus schlägt der Film eine emotionale Brücke von der Vergangenheit in eine von uns allen verantwortlich zu gestaltende Zukunft.

Der Film hat von der Deutschen Film- und Medienbewertung das Prädikat »Wertvoll« erhalten. Die Regisseurin Karin Kaper hat am 12. August den Kulturpreis Schlesien des Landes Niedersachsen erhalten. Seit der Filmpremiere am 17. November 2016 hat der Dokumentarfilm viele gute Kritiken bekommen.

Zu Wort kommt in dem Film unter anderem Anita Lasker-Wallfisch. Geboren 1925 in Breslau. Die Cellistin ist eine der letzten Überlebenden des Frauenorchesters von Au­schwitz-Birkenau. Im April 1942 wurden ihre Eltern in das Durchgangs­ghetto Izbica im Distrikt ­Lublin deportiert. Über deren weiteres Schicksal ist nichts bekannt.

Anita Lasker blieb mit ihrer Schwester Renate in Breslau. Wegen illegaler Widerstandstätigkeit und Hilfeleistung für französische Kriegsgefangene sowie Fluchtversuche aus Breslau wurde sie im September 1942 verhaftet und ins Breslauer Gefängnis gebracht. Ende 1943 wurde sie in das KZ Auschwitz deportiert, kurz darauf wurde auch ihre Schwester Renate in das Lager verschleppt.

Die Musikerin kam in Au­schwitz in die von Alma Rosé geleitete Lagerkapelle. Im November 1944 wurde sie mit ihrer Schwester in das KZ Bergen-Belsen verschleppt. Dort erlebte sie im April 1945 die Befreiung durch die britischen Truppen. 1946 wanderte sie nach London aus. 1949 begründete sie das English Chamber Orchestra. Anita Lasker-Wallfisch spielte weltweit auf Konzerten und lebt heute in London.

Ganz vielfältig sind die Biographien der Zeitzeugen, mit denen Kaper und Szuszies gesprochen haben, doch in ebensovielen Details ähneln sich die Lebensläufe: Alle 14 sind in Breslau geboren, jüdischen Glaubens und haben die Naziherrschaft als Jugendliche erlebt. Alle sind sie dem Terror auf mehr oder weniger dramatische Weise entkommen und haben ein neues Zuhause im Ausland gefunden – England, USA, Frankreich, Israel. Einer der Zeitzeugen, Wolfgang Nossen kehrte später nach Deutschland zurück und lebt heute in Erfurt.

Die Begegnung mit den Zeitzeugen, die heute zwischen 85 und 96 Jahre alt sind – Fritz Stern ist im vergangenen Jahr im Alter von 90 Jahren gestorben – hat bei den Filmemachern Spuren hinterlassen. Einerseits sind Karin Kaper und Dirk Szuszies mit dieser Arbeit »nur ihrem Beruf nachgegangen«, aber so einfach ist das eben nicht. »Es ist auch für professionelle Filmemacher wie uns unmöglich, nicht berührt von den Begegnungen und Gesprächen mit den Zeitzeugen zu sein«, berichtet Karin Kaper auf Nachfrage zu den Dreharbeiten.

»Wir hatten die Ehre, dass sie sich bereit erklärt haben, sich vor der Kamera offen zu äußern. Und oft mussten wir um Fassung ringen. Aber der unglaubliche Lebenswille und große Lebenslust der Protagonisten haben uns auch immer wieder aufgebaut«, schildert Kaper die Begegnungen mit den Menschen, die dem Grauen ins Auge blicken mussten.

Der Film zeichnet aber nicht nur Bilder aus der Vergangenheit, sondern zeigt auch Szenen der Gegenwart, wie wir sie in Europa erleben. Karin Kaper: »In Wroclaw hat uns der nationalistische Aufmarsch am 11. November 2015, der auch kurz im Film zu sehen ist, zutiefst erschüttert.« Der Film soll nicht allein der Chronik und dem Erinnern dienen. Er transportiert auch eine Botschaft: »Nicht nur in Polen, nein, leider in fast ganz Europa machen sich vermehrt dumpfe, fremdenfeindliche Strömungen breit. Der Film setzt ein Zeichen dagegen.«

Von Carsten Clever-Rott

Artikel vom 10.11.2017
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