Was ist schon »gerecht«?

Altersarmut nimmt zu: VdK kritisiert die Rentenpolitik

Ulrike Mascher und Michael Pausder vom Sozialverband VdK Bayern sorgen sich um die Zukunft der Rentengerechtigkeit in Deutschland.	Foto: cr

Ulrike Mascher und Michael Pausder vom Sozialverband VdK Bayern sorgen sich um die Zukunft der Rentengerechtigkeit in Deutschland. Foto: cr

München · Es war 1986, als der damalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm erstmals sagte: »Die Rente ist sicher.« Im Grunde hat der Satz bis heute Gültigkeit. Über die Rentenhöhe hat der heutige Politrentner nichts gesagt.

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Blüm sagte den Satz, den man wie nichts sonst mit seiner Person verbindet, seinerzeit im Wahlkampf. Die Rentenpolitik wird auch jetzt im Vorfeld der Bundestagswahl im Herbst 2017 ein Wahlkampfthema werden. Das erwartet zumindest Ulrike Mascher, Präsidentin des Sozialverbands VdK und Landesvorsitzende des Verbands in Bayern. Nicht ohne Grund: Der Verband sieht im derzeitigen Rentensystem Ungerechtigkeiten, die in vielen Fällen Altersarmut zur Folge haben können. Allein deshalb wird sich die Politik damit befassen müssen, weil unter anderem der VdK entsprechend Druck machen wird. Beispielhaft führte Mascher am Dienstag bei der Sommerpressekonferenz des VdK Bayern die Rechnung einer Erwerbsminderungsrentnerin aus München, 57 Jahre alt, alleinstehend, kinderlos, an: Von den gut 1.000 Euro Rente (Erwerbsminderungsrente, Rente aus der Versorgungskasse des öffentlichen Dienstes und Grundsicherung/Sozialhilfe) gehen über 60 Prozent fürs Wohnen drauf. Zum Leben bleiben der Münchnerin 276,05 Euro im Monat – für Lebensmittel, Kleidung, Konsumartikel, Freizeit…

»Die Rente muss zum Leben reichen«, formuliert Mascher die zentrale Forderung des Sozialverbands. In Bayern leben schon jetzt 3,3 Millionen Rentner, Tendenz steigend. Das Rentenniveau sei in den vergangenen Jahren stetig abgesunken auf heute 47,9 Prozent, im Jahr 2030 sollen es nur noch 43 Prozent sein. Es müsse jedoch bei 50 Prozent liegen, um die Gefahr von Altersarmut einzudämmen. Jeder Prozentpunkt koste sechs Milliarden Euro pro Jahr, habe die Deutsche Rentenversicherung mitgeteilt. Michael Pausder weiß, wo das Geld dafür herkommen könnte. Der Landesgeschäftsführer des VdK Bayern fordert eine effektivere Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerflucht: »Die deutschen Steuerflüchtlinge kosten den Staat pro Jahr rund 100 Milliarden Euro.«

Aber über dieses Geld kann der Staat nicht verfügen. So müssen auch die Rentner kürzertreten. Auf Geld verzichten muss, wer aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig in Rente geht. Der wird nämlich so behandelt, als wäre er freiwillig in Rente gegangen, und muss entsprechend Abschläge in Kauf nehmen. Verzichten müssen Frauen, die vor 1992 Kinder geboren haben. Die Mütterrente rechnet Frauen mit jüngeren Kindern drei Beitragsjahre pro Kind an. Bei den vor 1992 geborenen Kindern sind es nur zwei Jahre pro Kind.

»Das Rentensystem in Deutschland ist nicht ungerecht«, betont Ulrike Mascher. Aber es ließe sich einiges verbessern. Rente dürfe nicht den Charakter eines Almosens bekommen. Genau das treffe aber viele Menschen, die vorzeitig in den Ruhestand gehen. »Aus eigener Kraft können diese Menschen der Armut nicht mehr entkommen. Sobald sie die Regelaltersgrenze erreicht haben, wird die Erwerbsminderungsrente einfach in eine Altersrente umgewandelt.«

Rente darf nicht den Charakter ­eines Almosens bekommen

Damit spart die Rentenversicherung in der Summe viel Geld, doch um welchen Preis? Um die Einnahmenseite der Rentenversicherung zu stabilisieren, sei die Einbeziehung von Selbstständigen und Beamten erforderlich. Unsinn? Ulrike Mascher: »Unser Nachbar Österreich macht erfolgreich vor, dass das klappt, ohne dass das Land zusammenbricht.« Damit aber könnten Selbstständige besser abgesichert und Beamte gerecht in das Rentensystem integriert werden – eine Maßnahme von vielen, um Altersarmut zu bekämpfen?

»Eine lückenlose Erwerbsbiografie mit ordentlicher Bezahlung ist der beste Schutz vor Altersarmut«, doch das schaffen viele nicht. Und die Gesellschaft wird immer älter. 2045 werden in Bayern knapp 30 Prozent der dann 13 Millionen Einwohner über 65 Jahre alt sein. Heute sind es etwa 20 Prozent von 12,8 Millionen Einwohnern. Eine Anhebung des Renteneintrittsalters löst das Problem nicht – im Gegenteil. Es gäbe mehr Erwerbsminderungsrentner, die größere Abschläge hinnehmen müssten, kurz: mehr Altersarmut. Mascher: »Eine gerechte Rentenpolitik gehört zu einer solidarischen Gesellschaft dazu. Hier dürfen Bevölkerungsgruppen nicht gegeneinander ausgespielt werden.« Von Carsten Clever-Rott

Nicht jeder erreicht die Regelaltersgrenze
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung erhielten am 31. Dezember 2014 insgesamt 117.418 Personen in Bayern, davon waren 49.988 voll erwerbegemindert und im Alter von 18 bis unter 65 Jahre. Hinzu kommt die verdeckte Armut, da nach Aussage des VdK viele Menschen den Gang zum Amt scheuen. Insgesamt erhielten zum gleichen Zeitpunkt in Bayern 216.552 Menschen eine Erwerbsminderungsrente. Das ist etwa jeder Sechzehnte der rund 3,3 Millionen Rentenbezieher im Freistaat.

Artikel vom 12.08.2016
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