Archivleichen

München · Lesung aus Kriminalakten zum Tag der Archive am 5. März

Winfried Frey liest unter anderem aus den Akten des Falls Vera Brühne. 	Fotos: VA

Winfried Frey liest unter anderem aus den Akten des Falls Vera Brühne. Fotos: VA

München · Es war ein Bild des Grauens. Ein bis heute unbekannter Täter hat in der Nacht vom 31. März auf 1. April 1922 sechs Menschen auf einem Einödhof bei Schrobenhausen grausam getötet, darunter ein Säugling.

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Artikel vom 26.02.2016: Samstagsblatt München-Redakteur Carsten Clever-Rott über ­Fiktion und Wirklichkeit

Der Fall wurde nie aufgeklärt, die Akten wanderten ins Archiv. Der Name des Einödhofs jagt noch heute vielen Menschen einen eiskalten Schauer über den Rücken: Hinterkaifeck.

Es ist einer der Fälle, die nicht im Archiv geblieben sind. Seit Jahren bemühen sich Hobby-Ermittler um die Aufklärung anhand der offiziellen Tatortfotos, die im Internet veröffentlicht sind. Eine davon ist Jasmin Kaptur, die am kommenden Samstag, 5. März, im Staatsarchiv München, Schönfeldstraße 5, Teilnehmerin einer Expertendiskussion sein wird. Mit ihr auf dem Podium sitzt Autor Peter Leuschner, der sich intensiv mit dem Mordfall beschäftigt hat. Dem Gespräch voraus geht eine Lesung (Beginn: 15 Uhr). Der bekannte Münchner Schauspieler Winfried Frey (München 7, Die Rosenheim-Cops) liest aus diesem und anderen fesselnden Kriminalfällen. Das Staatsarchiv wird ausschnittweise zum Tatort.

Anlässlich des bundesweiten Tags der Archive finden in vielen Archiven besondere Veranstaltungen statt. Dabei geht es keineswegs immer so schaurig zu. Ganz im Gegenteil. In Haar öffnet das Bayerische Spielearchiv seine Türen, zeigt Schätze aus 60 Jahren und bietet Führungen an. Im Bayerischen Wirtschaftsarchiv steht »Flüssiges Gold – Bayerisches Bier« im Mittelpunkt. Das Deutsche Museum zeigt Dokumente, Fotografen und Filme zum Thema »Mobiles Leben einst und jetzt«.

Das Bayerische Hauptstaatsarchiv befasst sich mit Dachbodenfunden, Geheimschriften und einem »Kaltstart in die Demokratie«. Mehr zu den Veranstaltungen gibt es online unter www.tagderarchive.de Gänsehaut gratis gibt es aber nur im Staatsarchiv München. Ein Kontrapunkt zu den scheinbar staubigen Akten, dem Leben in der Theorie, dem oft eine bemerkenswerte Praxis vorausgeht.

Der Fall Vera Brühne ist auch heute, 56 Jahre nach der Tat, ein Begriff. Der Münchner Arzt Otto Praun und seine Haushälterin Elfriede Kloo wurden im April 1960 tot in seiner Villa in Pöcking gefunden. Alles deutete auf einen erweiterten Suizid hin und der Fall ging zu den Akten. Als sich jedoch herausstellte, dass Vera Brühne zu den Erben gehörte – es ging immerhin um ein Anwesen in Spanien – brachte Prauns Sohn den Fall wieder ins Rollen. Bei der Gerichtsverhandlung nahmen alle Beteiligten eher dubiose Rollen ein. Vera Brühne verwickelte sich in Widersprüche, die Polizei schien den Tatort nicht restlos auf Spuren untersucht zu haben, Prauns Sohn brachte überraschend Beweismaterial hervor und die Medien verurteilten Vera Brühne noch bevor das Gericht zu einem Ergebnis gekommen war. Ein Geständnis gab es nicht, das Urteil fiel aufgrund von Indizien und fragwürdigen Beweisen – und wurde später kritisiert und in Frage gestellt. Vera Brühne saß 18 Jahre lang im Gefängnis.

Winfried Frey liest beim Tag der Archive auch zu diesem spektakulären Fall aus den Akten. Beginn ist um 16 Uhr, im Anschluss folgt eine Expertendiskussion mit der Autorin Petra Cichos. Der Eintritt zu den Lesungen und weiteren Veranstaltungen im Staatsarchiv ist frei, darunter ein Blick hinter die Kulissen (allgemeine Magazinführung, 11 Uhr, max. 20 Personen), »Urkunden erkunden« (12 Uhr, max. 20 Personen) und Heimatforschung (15 Uhr, max. 20 Personen). Kriminell geht es bei den Führungen mit Lesung um 13 Uhr (Die mordende Magd) und 14 Uhr (Maiglöckchenmord) zu. Hier wird nicht erfunden oder choreografiert. Die Akten zählen nur die Fakten auf.

Mit dem Tag der Archive kommt ein besonderes Projekt des Staatsarchivs an die Öffentlichkeit: »Am Rand der Geschichte« heißt die Ausstellung, in der Geschichten von Münchner Bürgern präsentiert werden (Eröffnung um 10 Uhr). Darin wird unter anderem die Geschichte der Villa Salve an der Seydlitzstraße in Moosach nachgezeichnet. Auch das Martyrium der Gastwirtin Anna Maria Hohenester wird hier in Erinnerung gerufen. Sie entkam der Ermordung durch die nationalsozialistische Justiz mit knapper Not, litt aber bis zu ihrem Lebensende unter dem Trauma, das sie aus der Gestapohaft davongetragen hatte. Schicksale, eben am Rande der Geschichte, für Historiker von überschaubarem Wert und doch bewegend, weil sie einen längst vergangenen Alltag abbilden – den Alltag in München. Das Projekt der Bürgergeschichten bewahrt das, was in den Geschichtsbüchern keinen Platz hat. Dabei gehört es doch zu München dazu. Sehenswert. Lesenswert. Von Carsten Clever-Rott

Artikel vom 26.02.2016
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