Taten statt Worte

München · Dem Fachkräftemangel gemeinsam etwas entgegensetzen

Wie lassen sich ungenutzte Potentiale erschließen? Lothar Semper (Handwerkskammer, links) mit (rechts von hinten) Ralf Keckeis und Thorsten Beier (ALDI), MdL Isabell Zacharias und Andreas Vaerst (Arbeitsagentur) diskutierten. F.: Patricia Prankl

Wie lassen sich ungenutzte Potentiale erschließen? Lothar Semper (Handwerkskammer, links) mit (rechts von hinten) Ralf Keckeis und Thorsten Beier (ALDI), MdL Isabell Zacharias und Andreas Vaerst (Arbeitsagentur) diskutierten. F.: Patricia Prankl

München · Wer als junge Frau oder Mann die Schule hinter sich lässt, findet sich an einer Weggabelung wieder, von der aus eine unüberschaubare Zahl von Pfaden in die eigene Zukunft führt: …

…Wir haben in Deutschland mehr als 350 Ausbildungsberufe, dazu kommen 17.000 Studiengänge: Noch nie war das Angebot so groß – aber eben auch die Desorientierung der Jugendlichen, die in diesem Wirrwarr einen Beruf finden müssen, wie MdL Isabell Zacharias meint.

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So kommt es, dass 40 Prozent aller Schulabgänger keinen konkreten Ausbildungswunsch benennen können, wie Ralf Keckeis (ALDI SÜD) beobachtet hat. »Dieses Überangebot ist ein Problem«, meint Andreas Vaerst (Arbeitsagentur München) und erklärt: »Wenn ich im Supermarkt vor einem Regal mit 20 Sorten Marmelade stehe, gehe ich, ohne eine einzige zu kaufen.«

Wie finden Jugendliche die richtige »Marmelade«? Und wie kommen Betriebe an die immer rarer werdenden Fachkräfte? Darüber tauschten sich beim Round-Table-Gespräch der Münchner Wochenanzeiger im Landtag Vertreter aus Politik und Wirtschaft aus.

Dabei richtet sich der Blick verstärkt auf die, die es bisher schwer hatten, Ausbildungsplätze und Arbeitsstellen zu finden: Frauen sollen die entstehenden Lücken schließen, Behinderte, Migranten und »bildungsferne« oder »schwierige« Auszubildende. »Ich denke, wir verschenken immer noch zu viele Potentiale«, hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Integrationsgipfel Anfang Dezember mit Blick auf die Zuwanderer gesagt. Genau dasselbe denken Politiker und Wirtschaftsvertreter in Bezug auf die vielen Flüchtlinge, die zu uns kommen. »Wir brauchen alle, wir verlieren sonst viel Potential!« unterstreicht Isabell Zacharias.

Sie weist gängige Vorstellungen zurück: »Wer die Flucht hierher schafft, stammt oft aus Familien mit hohem Bildungsrgrad.« »Wir sehen in jungen Flüchtlingen eine enorme Zielgruppe«, denn sie sind hochmotiviert und gebildet«, ergänzt Lothar Semper. »Wir müssen Flüchtlinge als Chance begreifen«, bekräftigt Hubert Schöffmann.

Doch es gibt Probleme: Lothar Semper beklagt die fehlende Rechtssicherheit für Betriebe, die Flüchtlinge beschäftigen. Ihre Investition in den Nachwuchs müsse sich lohnen. Seine Forderung lautet daher »3 plus 2«, sprich: Jugendliche müssen nicht nur ihre Ausbildung (drei Jahre) zu Ende führen können, sondern im Anschluss mindestens zwei Jahre als Fachkraft arbeiten dürfen. Auf das »3 plus 2«-Modell setzt auch Hubert Schöffmann: »Es kann nicht sein, dass mitten in der Ausbildung eines Jugendlichen die Abschiebung droht.«

Lothar Semper gibt zu bedenken: Das Handwerk könne die Probleme nicht alleine lösen. »Wir brauchen für Flüchtlinge ein Konzept zur Rundumbetreuung.« Das gelte insbesondere für minderjährige Flüchtlinge: »Wir können sie nicht alleine lassen!«

Im Grunde gilt dieser Rat für alle jungen Leute: Ralf Keckeis (ALDI SÜD) legt allen ans Herz, die Nähe von Schulen und Betrieben zu stärken. Schüler sollten frühzeitig Praktika machen und Betriebe besichtigen - Betriebe sollten frühzeitig in die Schulen gehen. »Früh ran!« fasst Keckeis seine Überzeugung zusammen und bietet an, die Bildungspartnerschaften mit Schulen zu forcieren. Die Unzahl an Berufsmöglichkeiten gaukle eine Sicherheit vor, die es so nicht gebe. Schüler müssten so früh wie möglich praktische Erfahrungen sammeln, um sich später bei der Berufswahl leichter zu tun. »Sich um die Jungen zu kümmern, muss unser aller Herzensangelegenheit sein«, fordert Keckeis die Runde auf.

Thorsten Beier (ALDI SÜD) hält es für wichtig, die soziale Kompetenz von Jugendlichen zu stärken. Entscheidend sei aber, dass die Jugendlichen an den Schulen eher ihren Weg finden. Wie das geht, zeigt ALDI SÜD seit Jahren erfolgreich: »Wir suchen für uns die Besten aus dem Bewerbermarkt«, sagt er - und den »roten Teppich« für künftige Fachkräfte rollt ALDI SÜD bereits an den Schulen aus; Studienabbrecher erhalten eine zweite Chance im Einzelhandel, indem ALDI SÜD seit zwei Jahren das Abiturientenprogramm zum geprüften Handelsfachwirt inkl. des Abschlusses zum Einzelhandelskaufmann und den Erwerb des Ausbilderscheines innerhalb von 36 Monaten eingeführt hat; seit 2014 zahlt ALDI SÜD im Landkreis und im Stadtgebiet München eine Ballungsraumzulage. »Unsere Anstrengungen für das Recruiting sind sehr gestiegen«, erklärt Beier den Erfolg. Das betrifft nicht nur personelle Kapazitäten. Seit 2010 hat das Unternehmen in seinem Zuständigkeitsgebiet die finanziellen Ausgaben dafür verdreifacht.

Ralf Keckeis hält daher nichts von Lamentieren. »Setzen wir Akzente«, ruft er die Runde auf, »anstatt immer nur abzuwarten und auf Entwicklungen zu reagieren!« »Wir brauchen mehr Praxis, um früher in den Ausbildungsberuf hineinzukommen«, ist Isabell Zacharias überzeugt. Sie glaubt: »Vielen Akademikerfamilien täte es gut, früher mit dem richtigen Leben in Kontakt zu kommen.« Damit rennt sie bei Hubert Schöffmann offene Türen ein, der die hohe Akademikerquote kritisch sieht: »Für manch einen wäre die berufliche Bildung die bessere Option, der erfolgreichere Weg.«

»Der Stellenwert der beruflichen Bildung wird nicht anerkannt«, stellt Schöffmann fest, »in der Gesellschaft ist es noch nicht angekommen, dass berufliche Erfüllung und Karriere nicht nur über den akademischen Weg erreichbar sind.« »Der Fachkräftemangel«, prognostiziert Georg Eisenreich (Bildungsministerium), »wird bei der beruflichen Bildung größer sein als bei Akademikern«. Die von Schöffmann und den andern geforderte Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Ausbildung sei das Zentrum bayerischer Bildungspolitik. Am Ende, so Eisenreich, werden Angebot und Nachfrage den Preis von Leistungen bestimmen - und damit die Verdienstmöglichkeiten künftiger Fachkräfte: Ein guter Handwerker werde mehr verdienen können als mancher Akademiker. »Man muss gut sein in dem, was man tut«, sagt Eisenreich, »aber man muss nicht studieren!«

Von Johannes Beetz

Artikel vom 12.12.2014
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