Eltern auf (kurze) Zeit

Landkreis München · Für benachteiligte Kinder oft viel mehr als ein Rettungsanker

Der 28-jährige Rene (vorne Mitte) und seine ehemaligen »Eltern auf Zeit« Hans und Tineke Dekker sind ein Beispiel gelungener Vermittlung.	Foto: LRA München

Der 28-jährige Rene (vorne Mitte) und seine ehemaligen »Eltern auf Zeit« Hans und Tineke Dekker sind ein Beispiel gelungener Vermittlung. Foto: LRA München

München/Landkreis München · Kindern, die in schwierigen Familienverhältnissen aufwachsen, droht am Ende nicht selten ein Heimaufenthalt.

Weiterer Artikel zum Thema
Infoabend: Landratsamt München sucht »Eltern auf Zeit«r
Artikel vom 17.04.2017: Kindern ein zweites Zuhause geben

Das Pflegekinderteam des Kreisjugendamtes München hat daher die Initiative »Eltern auf Zeit« ins Leben gerufen, die benachteiligten Kindern aus Problemfamilien ein zwischenzeitliches, zweites Zuhause vermittelt, um ihnen bessere Zukunftsperspektiven zu bieten. Die Münchener Nord-Rundschau sprach mit Sozialpädagogin Birgit Voß, der Leiterin des Pflegekinderteams.

Münchener Nord-Rundschau: Was für eine konkrete Problemlage muss bei einem Kind gegeben sein, damit Sie aktiv werden?

Birgit Voß: Wenn Hilfemaßnahmen in ambulanter und teilstationärer Form nicht ausreichen. Ambulante Hilfemaßnahmen können hierbei z. B. das Angebot einer Beratungsstelle, der Sozialpädagogischen Familienhilfe (diese betreut und begleitet Familien in ihren Erziehungsaufgaben und bei der Bewältigung von Alltagsproblemen, d.R.) oder auch Erziehungsbeistandschaft (Unterstützung des Kindes bei der Bewältigung von Entwicklungsproblemen, d.R.) sein. Teilstationäre Hilfemaßnahmen sind z.B. Heilpädagogische Tagesstätten, in denen das Kind tagsüber außerhäuslich betreut wird. Lebensmittelpunkt bleibt jedoch die Herkunftsfamilie.

Worauf führen Sie den wachsenden Bedarf an »Eltern auf Zeit« zurück?

Birgit Voß: Die Zahl der notwendigen Unterbringungen ist in den letzten Jahren stetig gestiegen. Die Herausnahmen haben unterschiedliche Gründe, schwere Krankheit der Eltern, Suchtabhängigkeit, aber oftmals auch und verstärkt aufgrund Überforderung der Eltern bzw. des alleinerziehenden Elternteils. Im Jahr 2013 wurden im Landkreis München in der Altersspanne 0 – 12 Jahre 35 Kinder in Einrichtungen untergebracht, für die eventuell auch eine Pflegefamilie infrage gekommen wäre.

Sind berufstätige Paare/Einzelpersonen nicht gänzlich ungeeignet als »Eltern auf Zeit«?

Birgit Voß: Wichtig für das Kind ist, dass bei Unterbringung in Pflege keine weitere Fremdunterbringung notwendig ist und die Pflegeeltern selber die Betreuung und Erziehung des Kindes sicherstellen können. Daher ist es für uns wichtig, dass einer der Pflegeelternteile bei der Aufnahme von jüngeren Kindern seine Berufstätigkeit aufgibt oder die Elternzeit in Anspruch nimmt. Das ist bei Aufnahme eines Kindes in Vollzeitpflege durchaus möglich. Wenn das Kind in den Kindergarten oder Schule geht, ist selbstverständlich in der Zeit auch eine Beruftstätigkeit beider Pflegeelternteile möglich. Bei Einzelpersonen ist es natürlich schwierig, da sie zum einen gesicherte Verhältnisse vorweisen, aber ja auch Zeit für das Pflegekind haben muss. Hier muss dann geprüft werden, ob dies tatsächlich miteinander zu vereinbaren ist, natürlich ist auch das Alter des Kindes, wie bereits erwähnt, mit zu berücksichtigen.

Woher beziehen Sie die finanziellen Mittel, die an die »Eltern auf Zeit« ausbezahlt werden?

Birgit Voß: Die Pflegeeltern erhalten ein monatliches Pflegegeld ab 750 Euro, das aus dem Haushalt des Landkreises bestritten wird. Bereitschaftspflege wird mit Tagessätzen um die 100 Euro vergütet.

Aus welchem »Milieu« stammen die Kinder?

Birgit Voß: Oft lebt das Kind bei einem alleinerziehenden Elternteil, was selbst noch recht jung ist. Hinzu kommt, dass die Unterstützung seitens der Familie nicht ausreichend bzw. nicht gegeben ist.

Gibt es eine Kerngruppe von Pfegekindern nach Geschlecht und/oder Alter?

Birgit Voß: Die Unterbringung von Kindern in Pflege eignet sich auf jeden Fall für die Altersgruppe 0 - 6, in Einzelfällen auch darüber hinaus. Vom Geschlecht her ist es ziemlich gleich verteilt.

Existieren statistische Daten?

Birgit Voß: Im Jahr 2013 wurden 95 Kinder in Vollzeitpflege, 10 Kinder in sogenannter Bereitschaftspflege, also über eine kürzere Zeit, betreut.

Wie genau sieht die Zusammenarbeit mit den Jugendämtern aus?

Birgit Voß: Wir betreuen unsere Eltern auf Zeit durch eine engmaschige intensive Begleitung und Beratung. Es finden Hausbesuche, Gespräche im Jugendamt und auch regelmäßige Telefonate statt. Ein wichtiger Aufgabenbereich ist auch die Regelung und Begleitung der Kontakte des Kindes mit der Herkunftsfamilie, wodurch wir natürlich unsere Pflegefamilien auch entlasten. Wir initiieren und nehmen teil an Gesprächen in Einrichtungen, z.B. Kindergärten, Schulen, Therapeuten, Kliniken, sind zuständig für gerichtliche Verfahren, führen gemeinsame Hilfeplangespräche mit möglichst allen Beteiligten durch. Für Pflegefamilien gibt es auch Gruppenangebote, wie z.B. regelmäßige Supervision oder auch themenspezifische Seminare. Bei Bedarf installieren wir auch zusätzliche Hilfen wie z.B. Aufsuchende Familienberatung, Erziehungsbeistandschaft, Fachstellen für begleiteten Umgang.

Wie sieht die Einbindung der »Herkunftsfamilie« aus? Gibt es auch Fälle, wo keinerlei Kontakt besser wäre?

Birgit Voß: Wir betreuen nicht nur die Pflegefamilie, sondern sind auch Ansprechpartner für die Herkunftsfamilie. Die Herkunftsfamilie ist in der Regel durch die regelmäßige Hilfeplangespräche und Umgangskontakte eingebunden. Bei der Einbindung der Herkunftsfamilie durch regelmäßige Besuchskontakte steht für uns das Kind an erster Stelle und unser Aufgabe ist es hier, eine Regelung zu finden, durch die das Kind nicht belastet ist.

Besteht nicht die Gefahr, gerade bei einer Vermittlung auf längere Zeit, einer zu starken emotionalen Bindung zwischen Kind und neuem Zuhause, die am Ende noch mehr Probleme schafft für beide Seiten, als diese zu lösen oder zumindest zu vermindern?

Birgit Voß: Bei einer Vermittlung auf längere Zeit ist es für die weitere Entwicklung des Kindes sogar sehr förderlich und sinnvoll, dass es Bindungen aufgeben kann. Meist haben die Kinder zuvor in ihrer Herkunftsfamilie schwierige Bindungserfahrungen gemacht und die Kinder erhalten durch die Pflegefamilie die Möglichkeit, positive Bindungserfahrungen zu machen, die schwierige Erfahungen aus der Herkunftsfamilie zwar nicht heilen, aber abmildern.

Was/wer entscheidet über Dauer des Aufenthaltes?

Birgit Voß: Grundsätzlich ist ja Ziel jeder Jugendhilfemaßnahme, dass die Eltern sich wieder stabilisieren und somit für das Kind die Möglichkeit besteht, in die Herkunftsfamilie zurückzukehren. Diese Entscheidung muss aber unter Berücksichtigung der Vorgeschichte, das Alter des Kindes und dessen Aufenthaltsdauer in der Pflegefamilie getroffen werden. Der tolerierbare Zeitraum für ein jüngeres Kind ist hier natürlich anders, nämlich wesentlich kürzer als bei einem älteren Kind. Die sorgeberechtigten Personen sind zunächst diejenigen, die bestimmen, wo sich das Kind aufzuhalten hat. Die Zusammenarbeit mit Eltern ist hier sehr unterschiedlich. Es gibt durchaus Eltern, die sich bewusst sind, dass die Entscheidung der Unterbringung ihres Kindes in Pflege die richtige und beste Entscheidung ist. Wenn diese dies ihrem Kind auch noch so deutlich machen und ihm damit die Erlaubnis geben ›du darfst in der Pflegefamilie leben‹ gibt das dem Kind nochmals mehr Sicherheit und Stabilität. Natürlich gibt es auch Eltern, die mit der Unterbringung nicht einverstanden sind. Hier muss dann letztlich das Gericht entscheiden.

Würden Sie sagen, das Modell »Eltern auf Zeit« ist eine Art »Adoption auf Zeit«? Gab/gibt es Fälle, wo eine Adoption im Anschluss gewünscht/beantragt/durchgeführt wurde?

Birgit Voß: Nein, ganz klar nicht. Pflege und Adoption unterscheiden sich in drei wesentlichen Bereichen. Erstens: Mit der Adoption übernehmen die Adoptionseltern in allen Bereichen und mit allen Konsequenzen die Stellung der leiblichen Eltern. Sie übernehmen damit alle Rechte und Pflichten von sorgeberechtigen Eltern. Bei der Pflege übernehmen Pflegeeltern nicht die komplette elterliche Sorge. Zweitens: Die Pflegefamilie wird ein Stück weit zur öffentlichen Familie. Sie arbeiten mit dem Jugendamt zusammen; bei einer Adoption ist das Jugendamt nach Abschluss des Adoptionsverfahrens außen vor. Drittens: Bei Pflege ist die Herkunftsfamilie stets präsent. Es gibt gemeinsame Hilfeplangespräche und Besuchskontakte. Mit Aufnahme des Kindes nehmen die Pflegeeltern auch ein Stück weit die Herkunftsfamilie auf. Richtig ist es, dass in Einzelfällen (!) die Kinder durch die Pflegefamilie adoptiert werden, dies benötigt aber die Zustimmung der leiblichen Eltern.

Mit welchen rechtlichen Problemen haben Sie zu kämpfen?

Birgit Voß: Wie schon erwähnt ist bei mangelnder Zusammenarbeit mit den leiblichen Eltern eine Änderung und Regelung des Sorgerechts notwendig, damit wir so dann auch weiterhin den Aufenthalt und das Aufwachsen des Kindes in der Pflegefamilie ermöglichen können.

WEITERE INFOS IM WEB: www.elternaufzeit.landkreis-muenchen.de

Artikel vom 25.11.2014
Auf Facebook teilen / empfehlen Whatsapp

Weiterlesen





Wochenanzeiger München
 
Kleinanzeigen München
 
Zeitungen online lesen
z. B. Samstagsblatt, Münchener Nord-Rundschau, Schwabinger-Seiten, Südost-Kurier, Moosacher Anzeiger, TSV 1860, ...