Russisch recherchiert

Schwabing · Der neue »MIR«-Kalender: »Eine Bombe ist geplatzt«

400. Jubiläum der Romanow-Dynastie: Tatjana Lukina mit dem Kalender, den sie mit viel Liebe zusammengestellt hat.	Foto: scy

400. Jubiläum der Romanow-Dynastie: Tatjana Lukina mit dem Kalender, den sie mit viel Liebe zusammengestellt hat. Foto: scy

Schwabing · Eigentlich hat Tatjana Lukina nichts anderes gemacht als sonst auch. Sie hat monatelang recherchiert, zig Bücher gewälzt und dieses Wissen in einen russisch-deutschen Kalender gepackt, den der in Schwabing beheimatete Verein »MIR« alljährlich herausbringt.

Mal war der Kalender Puschkin gewidmet, mal Tschechow, mal Tjutschew. Doch heuer, da sei, wie die Künstlerin sagt, »eine Bombe geplatzt«. Noch nie zuvor habe ein Jahreskalender für so viel Diskussionspotential gesorgt, jeden Tag kämen Briefe und E-Mails. Viele begeisterte Zuschriften, aber auch scharfe Kritik, ein Mitglied sei sogar nach Veröffentlichung des Kalenders aus dem Verein ausgetreten. »Hurra, der Zar! Hochleben soll der Zar«, ist der Kalender 2014 betitelt. Er ist dem 400. Jubiläum der Romanow-Dynastie gewidmet. »Eine Monarchistin bin ich deshalb noch lange nicht«, erklärt Lukina. »Soll bloß keiner glauben, dass wir uns das Zarentum wieder zurückwünschen«, legt sie bekräftigend nach. Wieso sich der Verein »MIR«, der sich zum Ziel gesetzt hat, Brücken zwischen der russischen und deutschen Kultur zu schaffen, dafür entschieden hat, ausgerechnet der Romanow-Dynastie zu gedenken, begründet Vereinspräsidentin Lukina so: »Wegen zahlreicher Eheschließungen mit deutschen Prinzessinnen ist sie zum Schluss völlig zu einer deutsch-russischen Dynastie geworden, die die traditionellen Beziehungen zwischen unseren Ländern in allen Bereichen jahrhundertelang pflegte.« Und damit sei sie für den Verein von großer Bedeutung.

Und man denke freilich auch an Zar Peter den Großen, der 1703 Sankt Petersburg erbauen ließ. »Damit hat er ein symbolisches ›Fenster nach Europa‹ aufgestoßen«, so die gebürtige Ukrainerin weiter. Des Zaren Tochter Anna war denn auch die Erste, mit der die Heiratspolitik zwischen Deutschland und Russland in Gang kam. 1725 heiratete sie Herzog Karl Friedrich und wurde dadurch zum Mitglied der Familie von Holstein-Gottorf. Seither wurden die verwandtschaftlichen Beziehungen zu den regierenden Häusern Deutschlands konsequent ausgebaut. Bereits ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nahmen die russischen Kaiser ausschließlich deutsche Prinzessinnen zur Frau, die bekannteste von ihnen ist sicherlich Katharina die Große. Das hatte unter anderem freilich diplomatische Gründe, aber auch die Stammbäume der deutschen Familien spielten eine entscheidende Rolle. »Nicht zu vergessen, dass die Bräute außerdem das passende Glaubensbekenntnis hatten«, berichtet Lukina. Denn: Protestantinnen, und das waren die Auserwählten allesamt, können problemlos zum orthodoxen Christentum konvertieren. Katholikinnen hingegen können das nicht.

Die Zarenfamilie der Romanows, die Russland von 1613 bis zur Februarrevolution 1917 regierte, gehörte zu den reichsten und prächtigsten des Adels und brachte jede Menge illustre Persönlichkeiten hervor. Viele waren von Skandalen umwittert und von ungewöhnlich viel Pech und Tragödien verfolgt. Manche Historiker schätzen, dass es über 280 frühe Todesfälle, Unfälle und Krankheiten innerhalb der drei Jahrhunderte andauernden Romanow-Dynastie gab. Das sicherlich brutalste Ereignis ist die Ermordung des letzten Zaren Nicolai II mitsamt seiner Familie und Bediensteten. Das Massaker durch die Bolschewiken ereignete sich in der Nacht auf den 17. Juli 1918 in Jekatarinburg.

»Um diesen Kalender zu gestalten, musste ich mich immer wieder entscheiden, über wen schreibe ich was und wieviel«, erzählt Lukina. »Das Jahr hat bekanntlich nur zwölf Monate und demzufolge hatte ich nur zwölf Seiten zur Verfügung, um diese kompakte Geschichte auf Russisch und Deutsch zu erzählen.« Vieles musste also aus Platzgründen ausgespart werden. Zumal es ja auch jede Menge Bilder gibt, denn wer wollte sich schon einen Kalender an die Wand hängen, der nur aus Text besteht. Auch wie sie sich positionieren soll, hat die Autorin klar entschieden: Es ging ihr darum, einige Fakten zusammenzustellen, statt in eine kritische Auseinandersetzung zu gehen.

Russische Geschichte besser verstehen

»Wie die Romanows zu beurteilen sind, will ich niemandem vorschreiben, auch wenn ich selbst eine klare Haltung habe. In meinem Weltbild kommt es nicht vor, dass sich die einen Menschen vor anderen zu verbeugen haben. Ein Mensch, der adelig ist, ist nicht mehr wert als ein anderer«, so Lukina, die hofft, einen weiteren Beitrag dazu geleistet zu haben, russische Geschichte besser zu verstehen. »Mit diesem Kalender ist MIR wirklich ein außergewöhnliches Dokument gelungen, eine Art Geschichtsbuch über die Romanow-Dynastie sozusagen«, schreibt einer der vielen, die sich jetzt beim Verein melden. Ein anderer teilt mit: »Ich muss zugeben, dass ich eure aristokratische Begeisterung für die Romanows nicht ganz teilen kann und bin froh, dass es mal eine Oktoberrevolution gab. Lenin hätte den Umsturz schließlich nicht in die Wege leiten können, wenn nicht so viele unter dem alten Regime gelitten hätten.« Auch der Kreml übrigens hat das Jubiläum entsprechend gefeiert und den Romanows zu Ehren einen Hochglanz-Kalender herausgebracht. Zudem wurde eine entsprechende Ausstellung gestaltet. Zur Eröffnung kamen über 15.000 Besucher in den bekannten Moskauer Ausstellungskomplex Manege. Der Romanow-Kalender ist für 15 Euro erhältlich und kann unter kulturzentrum@mir-ev.de bestellt werden. Sylvie-Sophie Schindler

Artikel vom 28.01.2014
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