Knappertsbusch-Schüler testen ihr Viertel auf Herz und Rampen

Bogenhausen · »Das kostet Kraft!«

Eren versucht mit »seinem« Rollstuhl voranzukommen, und muss sich dabei ganz schön plagen. Der »blinde« Erasmus wird von seiner Lehrerin Claudia  Karmann auf den rechten Weg gebracht. Foto: hgb

Eren versucht mit »seinem« Rollstuhl voranzukommen, und muss sich dabei ganz schön plagen. Der »blinde« Erasmus wird von seiner Lehrerin Claudia Karmann auf den rechten Weg gebracht. Foto: hgb

Bogenhausen · Leopold (9) stützt sich mit aller Kraft am rechten Greifreifen seines Kinderrollstuhls ab, strafft seinen ganzen Körper und streckt seinen linken Arm weit aus. Er versucht den Einwurf des Glascontainers, neben dem er sitzt, zu erreichen. »Der ist zu hoch, da komm ich nicht ran«. Irgendwann gibt er auf. Sein Mitschüler Eren schaut genau zu, macht sich Notizen.

Beide sind mit ihrer Klasse 3a der Grundschule an der Knappertsbuschstraße und Mitarbeitern des Kreisjugendrings (KJR) zum Stadtteilcheck »Auf Herz und Rampen prüfen« in Bogenhausen unterwegs. Bei diesem Projekt sollen Kinder zum einen selbst ausprobieren, wie es ist, mit einem Rollstuhl, blind oder stark sehbeeinträchtigt im Alltag zurechtzukommen. Zum anderen sollen die von den Kindern festgestellten und protokollierten Barrieren und Schwierigkeiten den Entscheidern, in dem Fall den Lokalpolitikern des Bezirksausschusses (BA) Bogenhausen, mitgeteilt und Nachbesserungen angeregt werden. KJR-Sozialpädagogin Janika Meisl, die die 2009 initiierte Aktion seit zwei Jahren leitet, hat zusammen mit der Lehrerin Claudia Karmann den dreistündigen Rundgang bis zum S-Bahnhof Englschalking vorbereitet und organisiert. Meisl übergibt Erasmus (9) einen weißen Blindenstock, streift ihm eine Schlafbrille aus Stoff über die Augen und mahnt: »Bleib sofort stehen, wenn du ein Hindernis ertastet hast.« »Ich seh alles total verschwommen und ganz viele Punkte«, meint Paula irritiert. Sie trägt eine Brille, deren Gläser die Sehkraft um 90 Prozent vermindern. Sie und Erasmus führen an der Hand der Betreuerinnen die Truppe an, die Rollstuhlfahrer Leopold und Harel mit rutschfesten Handschuhen ausgestattet, sind die Schlusslichter. »Puh, das geht schwer, der lenkt sich ganz schlecht, das kostet ja richtig Kraft«, muss Leopold erkennen, während sein Freund Harel beim Überfahren einer gepflasterten Einfahrt meint: »Wenn hier glatter Asphalt wäre, wäre es nicht so mühsam.« Man sieht, wie beide ins Schwitzen kommen.

Angelika Pilz-Strasser, die Vorsitzende des Bezirksausschusses Bogenhausen, hat es sich nicht nehmen lassen, die Gruppe wenigstens ein kurzes Stück zu begleiten: »Ich bin gespannt, wo die Kinder meinen, dass wir Lokalpolitiker nachbessern sollten.« Auch die stummen Zeitungsverkäufer sind für die Rollstuhl-Kinder zu hoch, hinzu kommt ein weiteres Ärgernis: »Der Deckel hält nicht, der klappt immer wieder runter.« Derweil fährt Paula mit dem Finger Buchstabe um Buchstabe über die großen Lettern am Zeitungskasten, um den Text erfassen zu können. »Kann mich jemand schieben? Meine Arme tun weh«, beginnt Leopold nach kaum 300 Meter Rollstuhlfahrt zu klagen. Schließlich wird er von einem Mitschüler abgelöst. »Wo kommt die grüne Flasche rein?«, fragt Janika Meisl den »blinden« Erasmus an der Robert-Heger-Straße. »Weiß ich nicht, da muss ich wahrscheinlich jemanden fragen«, antwortet er und tastet an der Box entlang, versucht, eine Blindenschrift zu entdecken. »Was ist, wenn niemand in der Nähe ist?«, hakt die Pädagogin nach. Keiner weiß weiter. Da erinnert Meisl an das Farberkennungsgerät, das sie im Unterricht erklärt hat. Doch auch das nützt hier nichts, denn die Boxen sind allesamt beige. »Warum sind die Behälter für Grünglas eigentlich nicht grün, die für Braunglas braun?« Das würde auch die erwachsene, tatsächlich behinderte und auf den Rollstuhl angewiesene Marion gerne wissen. Sie begleitet die Gruppe und lässt sie an ihren Erfahrungen aus dem wirklichen Leben teilhaben.

Auch am ampelgesteuerten Übergang an der Freischützstraße mit sechs durch einen Mittelstreifen getrennten Fahrspuren, wird den Schülern klar, was es bedeutet, behindert zu sein. Bei Grünlicht schaffen es die Kinder im Rollstuhl, mit Augenbinde und Blindenlangstock gerade mal bis zur Mitte, ehe schon wieder Rot aufleuchtet und die Autos nur wenige Zentimeter von ihnen entfernt vorbeirasen. Harel, der offensichtlich erleichtert ist, als alle das »rettende Ufer« der gegenüberliegenden Flaschenträgerstraße erreicht haben, erkennt: »Bin ich froh, dass wir das alles nur ausprobieren!«

Helmut G. Blessing

Artikel vom 09.07.2013
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