60 Jahre Pfennigparade: Für Günter Hirtreiter ein absoluter Erfolg

Milbertshofen/Schwabing · Ein Leben wie jedermann

Günter Hirtreiter wohnt seit 44 Jahren in der Pfennigparade in der Barlachstraße am Petuelring.	Foto: ws

Günter Hirtreiter wohnt seit 44 Jahren in der Pfennigparade in der Barlachstraße am Petuelring. Foto: ws

Milbertshofen/Schwabing · Günter Hirtreiter sitzt von frühester Kindheit an im Rollstuhl. Mit sechs Jahren zog er mit seinen Eltern in die Pfennigparade in der Barlachstraße am Petuelring und wohnt dort nun seit 44 Jahren.

Der heute 50-Jährige verdankt dem Reha-Zentrum viel. »Ich kann leben wie jedermann. Ich bin ein ganz normaler Mensch geworden durch die Stiftung Pfennigparade.« Er ist eines von vielen Contergan geschädigten Kindern: »Ich bin mit kurzen Beinen auf die Welt gekommen.« In den ersten sechs Jahren war er fast nur im Krankenhaus, musste viele Beinoperationen über sich ergehen lassen. Als Sechsjähriger bezog er mit seiner Schwester und seinen Eltern eine nigelnagelneue Wohnung der Pfennigparade.

Hirtreiter besuchte dort erst die Grundschule und dann die Hauptschule. Nach dem Schulabschluss machte er tagsüber eine Lehre als Büroangestellter bei der Bayerischen Landesanstalt für Tierzucht in Poing. Dort arbeitet er immer noch, wohnt aber nach wie vor in der Pfennigparade – inzwischen ganz allein, die Schwester ist längst ausgezogen und die Eltern sind gestorben. Er ist stolz, keinerlei fremde Hilfe zu brauchen. »Ich mache alles allein. In der Wohnung krabbele ich am Boden, ich bade alleine und ich ziehe mich alleine an. Und ich fahre Auto.« Er kann alleine ein- und aussteigen, hievt den Rollstuhl rein und raus und fährt los. Gas geben und Bremsen funktioniert über eine Stange am Lenkrad, die mit den Pedalen am Boden verbunden ist. Diese Selbstständigkeit hat der 50-Jährige der Pfennigparade zu verdanken. »Ich habe mich hier nie unwohl gefühlt. Es war immer schön.« In der langen Zeit, die er dort wohnt, erlebte er mit, wie die Einrichtung wuchs und wuchs: Neue Gebäude entstanden, mehr Menschen kamen. Inzwischen wohnen, arbeiten und lernen in dem Komplex mehr als 1500 Körperbehinderte.

Die Stiftung Pfennigparade feierte nun ihr 60-jähriges Bestehen. Was aus einer Polio-Station im Schwabinger Krankenhaus mittels einer Bürgerinitiative entstanden sei, habe sich zu einer der größten und zu einer wohl einmaligen Reha-Einrichtung in Süddeutschland entwickelt, resümierte Gernot Steinmann vom Vorstand der Stiftung beim großen Jubiläumsfest am Petuelpark. Die Pfennigparade habe trotz ihres Wachstums immer ein Ziel im Auge behalten: »Im Mittelpunkt unseres Tuns immer an die Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung zu denken.« Einen Schulabschluss schaffen, arbeiten können, in einer eigenen Wohnung leben. Das sind drei ganz normale Wünsche, die aber für so manchen Behinderten unerreichbar erscheinen. Die Stiftung Pfennigparade und ihre zahlreichen Tochtergesellschaften helfen, diese Wünsche zu verwirklichen.

Zum Erfolg des Rehabilitationszentrums hätten viele beigetragen, berichtete Steinmann. Die Betroffenen mit ihrem Selbstbehauptungswillen, der Bezirk Oberbayern und die Stadt München, die Ende der 1960er Jahre ihr Grundstück in der Barlachstraße der Pfennigparade in Erbbaurecht überließ, und zwar ohne dafür die Zahlung einer Erbpacht zu verlangen. »Die Stadt ist immer ein verlässlicher Partner«, betonte Steinmann. Aber auch ohne die große Spendenbereitschaft der Bürger – 1,3 Millionen Euro pro Jahr – wäre vieles in der Pfennigparade nicht möglich. Nicht zu vergessen die rund 1400 Mitarbeiter sowie die vielen jungen Leute, die in dem Reha-Zentrum freiwillige Dienste leisteten. »Nur in einem solchen Miteinander kann ein solches Werk gelingen«, bilanzierte Steinmann.

Alt-OB Hans-Jochen Vogel, während dessen Amtszeit die Stadt ihr Grundstück der Pfennigparade überließ, wünschte der Stiftung »ein erfolgreiches Fortsetzen der Arbeit«. Damit könnten die Menschen trotz ihrer schweren Behinderung ein erfülltes und glückliches Leben führen. Bürgermeisterin Christine Strobl betonte, dass »Behinderung eine gesellschaftspolitische Aufgabe ist«. Die Stadt München wisse, was sie an der Pfennigparade habe und sei über diese Einrichtung »sehr, sehr froh«. Diese erweitere ständig ihre Angebotspalette, und zwar auch um hoch innovative Dienste. Die Stiftung stelle sich also immer wieder auf neue Herausforderungen und veränderte Rahmenbedingungen ein. Zum einen entsteht derzeit an der Barlachstraße ein Schulneubau, weil die derzeitigen Räume aus allen Nähten platzen. Und zum anderen wird es für ältere Menschen mit Behinderung ein neues Wohnangebot am Scheidplatz geben, wo die Stadt derzeit ein Mehrgenerationenhaus baue, so Strobl. Denn auch Günter Hirtreiter wird einmal ins Rentenalter kommen. Und vielleicht dann in den Neubau am Scheidplatz umziehen. Seit 50 Jahren übernehmen seine Arme die Funktion der Beine mit. »Ich schaffe alles mit eigener Muskelkraft«, freut sich der Bewohner der Pfennigparade, der auch seinen Rollstuhl selbst anschiebt. »Aber das alles wird nicht leichter mit dem Alter.« ws

Artikel vom 24.07.2012
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