Albrecht Ackerland erzählt im Münchner SamstagsBlatt über das kribbeln

München · Da schau her! Albrecht Ackerland über Handarbeitsboom

München · Mei, wenn das meine Uroma selig noch erlebt hätte: Du gehst in München spazieren und auf einmal fällt dein Blick auf etwas Seltsames. Wer häkelt denn einen Laternenmasten ein? Aber gefallen hätte ihr das. Wahrscheinlich hätte sie ihre senile Bettflucht gar dazu genutzt, um sich nachts aus dem Haus zu schleichen und sich einen für ihr hohes Alter wirklich ultimativen Kick des Verbotenen zu holen. Wer hätte gedacht, dass du dich als Häkler einmal wie ein netter Anarchist fühlen könntest. Wollgarn ist auch noch schöner als brennende Mülleimer.

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Meine Uroma war kein Anarchist, auch kein bayerischer in einer Tradition von Oskar Maria Graf oder Erich Mühsam. Meine Uroma wuchs in einem Dorf auf einer oberbayerischen Eiszeitmoräne, eine Bauerstochter, hart erzogen, untertänig auf. Dann heiratete sie ins Nachbardorf, diesmal ins Tal zwischen zwei einst von den Gletschermassen zusammengeschobenen Hügelrücken. Meine Uroma hätte auch nie die Gelegenheit gehabt, einen eingehäkelten Laternenmast zu entdecken. Nach München zum Spazierengehen kam sie selten, nie eigentlich. Und trotz ihrer dörflichen Eiszeit in ihrem Leben hatte sie doch einen Sinn für Kunst und Komik. Sie hat ihn sich entwickelt und geschafft, ihn zu halten, eine Nische für sich zu finden. Sie häkelte. In zunehmendem Alter immer mehr. Und immer absurder. Als sie schon beinahe Hundert Jahre alt war, häkelte sie nur noch Gebilde ohne jeden Zweck, dafür erinnerten die Formen langsam an einen Rausch, wie ihn die berüchtigten Kuhweidenschwammerl auszulösen vermögen. Die Farben sowieso. Meine Uroma war beinahe blind, als sie die größten Kunstwerke in meinen Augen schuf. Die Leute aus dem Dorf erklärten sie langsam für verrückt.

Eigentlich wäre das die Zeit gewesen, ihr Talent zu fördern, so wie du kleine Kinder fördern solltest, wenn nach und nach ein Interesse für etwas Besonderes keimt und stärker und stärker wird. Hätte ich ihr geholfen, all ihre psychedelischen Flicken zusammenzutragen und damit den Kirchturm zu ummanteln – meine Uroma wäre in die Kunstgeschichte eingegangen.

Das sonderbare Jucken, das meine Uroma in ihren Fingern verspürt haben muss, merke ich neuerdings auch bei mir. Es kribbelt. Auch auf die Gefahr hin, dass meine Freunde mich früher oder später einweisen lassen, ich bastle nun hin und wieder. So ganz im Kleinen. Und wenn ich dann wieder beim Spazierengehen einen eingehäkelten Mülleimer sehe, dann freue ich mich, dass da jemand brennt für seine Leidenschaft. Schön, dass die Spießigkeit der Handarbeit verloren geht – wenn es sie überhaupt je gab.

Artikel vom 06.06.2012
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