»Jugend im Nationalsozialismus«: Gymnasiasten stellen aus

Schwabing · Schüler gegen braun

Schüler dreier Gymnasien haben in der Seidlvilla die Ausstellung »Jugend im Nationalsozialismus« auf die Beine gestellt.	Foto: Sylvie-Sophie Schindler

Schüler dreier Gymnasien haben in der Seidlvilla die Ausstellung »Jugend im Nationalsozialismus« auf die Beine gestellt. Foto: Sylvie-Sophie Schindler

Schwabing · Hört es denn niemals auf? Die Gräueltaten der so genannten Zwickauer Zelle haben gezeigt: Der Rechtsradikalismus lebt immer noch in den Köpfen mancher Menschen und lässt sie vor Mord nicht zurückschrecken.

»Nationalismus und Faschismus sind zeitlos und haben nicht mit dem Kriegsende im Jahr 1945 aufgehört«, sagt die Abiturientin Charlotte Guiol. Sie gehört zu den 35 Schülern des Bertolt-Brecht-, Heinrich-Heine- und Luisengymnasiums, die sich knapp zwei Jahre lang beim P-Seminar »Geschichte« der Schulen mit dem NS-Regime befasst, dafür Stunden in Archiven verbracht und dazu nun die Ausstellung »Jugend im Nationalsozialismus« in der Schwabinger Seidlvilla auf die Beine gestellt haben. Im Fokus ihrer Recherche standen die Fragen: Wie erging es der Jugend während der Zeit der Nazi-Diktatur? Wer war fasziniert? Wer leistete Widerstand? Wer wurde verfolgt? Mittels Biografien haben die Schüler das Thema aufgearbeitet. »Uns war wichtig, zu vermitteln, dass das Leute wie du und ich waren. Die waren ja nicht blöd im Kopf, sondern Kinder ihrer Zeit«, erklärt der Gymnasiast Jonathan Reschauer.

Einige Jugendliche von damals sind bekannt, vor allem deshalb, weil sie Mut und Unerschrockenheit bewiesen: Hans und Sophie Scholl, Christoph Probst und Willi Graf – Mitglieder der Widerstandsgruppe »Weiße Rose«. Doch sie waren, und das zeigt die Ausstellung, nicht die einzigen Jugendlichen, die während des Dritten Reichs aufbegehrten. Walter Klingenbeck beispielsweise gründete unter anderem mit Freunden 1941 eine eigene Radiostation, die oppositionelle Propaganda sendete. Später wurde er dafür hingerichtet. Zu Wort kommen in der Ausstellung aber auch Überlebende, wie beispielsweise Kaspar-Bert Fürmann, der seine Jugend während der NS-Zeit in Planegg verbrachte. »Wir sind alle verführt worden, wir ließen uns auch verführen«, erinnert er sich. Cläre Mierau blickt so zurück: »Für mich war das eine sehr beängstigende Zeit, aber auch kameradschaftlich.« Neben den Berichten mehrerer Zeitzeugen sind unter anderem auch die Auswirkungen der NS-Ideologie auf die Lehrpläne, Schulbücher und Einstellungen der Lehrkräfte dokumentiert. Denn natürlich machte die braune Indoktrinierung auch vor den Klassenzimmern nicht Halt. »Es gab an unserer Schule bis 1941 einen Direktor, der hatte die Nummer 695 in der NSDAP«, berichtet beispielsweise Jonathan Reschauer vom Luisengymnasium.

Zur Ausstellungseröffnung am vergangenen Donnerstag sprach Münchens Kulturreferent Hans-Georg Küppers: »Was die Schüler hier zusammengetragen haben, sind Einzelschicksale, die in der Summe ein differenziertes Bild ergeben.« Man werde zum Nachdenken gebracht, nicht nur über das Gestern, sondern auch über die Gegenwart. Ausgrenzung sei ein Phänomen, dem man jeden Tag begegnet. »Wir sollten uns selber fragen, wie wir mit Vorurteilen umgehen«, so der Dezernent.

Beeindruckende Leistung der Schüler

»Es ist unvorstellbar, dass tödliche Inhumanität immer noch eine Anziehungskraft ausübt«, sagte Peter Schricker vom Pädagogischen Institut München. Schricker und seine Institutskollegen haben den Schülern bei ihrer Recherche geholfen, so auch das NS-Dokumentationszentrum, das Gemeindearchiv Gräfelfing und die Ausbildungsabteilung des Bayerischen Rundfunks. Letztere bot auch Unterstützung bei der Realisierung eines Dokumentarfilms, den die Jugendlichen vom Bertolt-Brecht-Gymnasium drehten und der ebenfalls in der Ausstellung zu sehen ist. »Ich bin sehr beeindruckt, was die Schüler geleistet haben«, sagt Marianne Mischung, die das Projekt am Bertolt-Brecht-Gymnasium leitete. Jeder habe mit seiner Persönlichkeit zum Gesamtwerk beigetragen und immer wieder auf seine Weise Impulse, Anregungen gegeben und Widerspruch erhoben.

Das Engagement war groß, Kritik von Schülerseite gab es trotzdem. Denn die Schüler konnten für ihren überdurchschnittlichen Einsatz mit maximal 30 von 900 Punkten fürs Abitur entlohnt werden. Die Kritik der Schüler sei berechtigt, so Mischung. Ihrer geleisteten Arbeit würde dies keinesfalls gerecht. Andererseits seien wertvolle Erfahrungen für das Berufsleben gesammelt worden, etwa freundlich, aber hartnäckig bleiben, Kontakte mit Menschen aufnehmen, auch mal unangenehme Telefonate führen, Zeitmanagement, Projektplanung, Teamarbeit und Probleme analysieren und lösen.

Wie unermüdlich die Projektteilnehmer waren, erklärt die Gymnasiastin Sophia Meichsner: »Ich habe mit 30 Stunden gerechnet, es sind dann 90 geworden und jede Menge schlaflose Nächte.« Doch es habe sich gelohnt, denn, so Sophie Mäusel: »Durch das Projekt wird das Thema greifbarer, lebendiger. Es geht also auch anders. Schule muss nicht nur trocken daher kommen.«

»Mal gegen den Strom schwimmen«

Nach der Ermordung der Kernmitglieder der »Weißen Rose« hielt der Schriftsteller Thomas Mann in einer in Deutschland ausgestrahlten Sendung der BBC eine Rede und endete mit den Worten: »Ihr sollt nicht umsonst gestorben sein, ihr sollt nicht vergessen sein.« In diesem Sinne agieren auch Münchens Schüler, damit sich nicht wiederholt, was damals geschah. Und mit ihren Biografien von Jugendlichen sprechen sie andere Jugendliche direkter an als es andere Ausstellungen über die NS-Zeit tun können. Und Lerneffekte geschehen ganz nebenbei, so wie bei Projektteilnehmer Julian Abeska vom Heinrich-Heine-Gymnasium, der nonkonformes Denken für entscheidend hält, um möglichen ähnlichen Bewegungen keine Chance zu geben: »Ich habe aus unserer Arbeit mitgenommen, dass es wichtig ist, auch mal gegen den Strom zu schwimmen und nicht nur zu tun, was alle anderen tun.«

Die Ausstellung ist bis Donnerstag, 5. April, täglich von 12 bis 19 Uhr in der Seidlvilla, Nikolaiplatz 1b, zu sehen. Der Eintritt ist frei. Gruppenführungen, nicht nur für Schulklassen, können unter info@seidlvilla.de vereinbart werden. Sylvie-Sophie Schindler

Artikel vom 06.03.2012
Auf Facebook teilen / empfehlen Whatsapp

Weiterlesen





Wochenanzeiger München
 
Kleinanzeigen München
 
Zeitungen online lesen
z. B. Samstagsblatt, Münchener Nord-Rundschau, Schwabinger-Seiten, Südost-Kurier, Moosacher Anzeiger, TSV 1860, ...