Der DRK-Suchdienst in Giesing beim „Tag der Archive“

Giesing · Schicksale hinter Karteikarten

Heinrich Rehberg recherchiert im umfangreichen Namenskarten-Archiv, die bis heute die Basis der Arbeit beim Suchdienst bilden. Foto: ms

Heinrich Rehberg recherchiert im umfangreichen Namenskarten-Archiv, die bis heute die Basis der Arbeit beim Suchdienst bilden. Foto: ms

Giesing · Immer, wenn irgendwo auf der Welt etwas Schlimmes passiert, glühen in der Chiemgaustraße 109 die Telefondrähte. Der dortige Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes ist offizielle Auskunftsstelle bei Katastrophen, ob nach dem Tsunami in Thailand 2004 oder dem U-Bahn-Attentat in London im Juli 2005 mit über 50 Toten und rund 700 Verletzten.

Das Team ist in solchen Fällen in drei Schichten rund um die Uhr für besorgte Angehörige da. „Sie glauben gar nicht, wieviele Deutsche am 7. Juli 2005 in London waren, wieviele Schulklassen, Freudinnen beim Shoppen und Urlauber“, erzählt Standortleiter Heinrich Rehberg. Letztendlich war bei dem U-Bahn-Attentat in London an diesem Tag kein einziger Deutscher betroffen. „Wir versuchen aber allen bei ihren Fragen weiterzuhelfen.“

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Das ist auch die Aufgabe des Suchdienstes, die 80 Prozent der Arbeit der 70 festen Mitarbeiter in der Chiemgaustraße ausmacht – obwohl die Ursache schon über 60 Jahre vorbei ist: Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen. Rund 55 Millionen Menschen starben, unzählige wurden vertrieben oder waren auf der Flucht. Zurück blieben Familienangehörige ohne Nachricht über das Schicksal ihrer Verwandten. So entstand der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes. Beim „Tag der Archive“ am Samstag, 3. März, kann man von 10 bis 17 Uhr hinter die Kulissen dieses „Schicksalsarchiv der Deutschen, so Rehberg, werfen.

50 Millionen Karteikarten aus über 60 Jahren zu vermissten Soldaten und Zivilpersonen bilden die Basis der täglichen Arbeit in der Chiemgaustraße. „Wir haben 200 Anfragen pro Tag, nur zum Zweiten Weltkrieg“, berichtet Heinrich Rehberg. Wissen, was passiert ist, an welchem Tag der Bruder oder Opa gestorben ist, im Kriegsgeschehen oder auf dem Weg ins Gefangenenlager. und wo er möglicherweise begraben liegt, ist der Grund für Anfragen. Auch Familienforscher, deren Vorfahren aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten stammen, wenden sich für den Stammbaum an den Suchdienst. „Es gibt nicht viele Stellen, wo man etwas findet, da die polnischen Archive im Krieg weitgehend zerstört wurden“, sagt Rehberg. Oder der Blick auf das Kriegerdenkmal im Heimatort mit dem Namen eines Verwandten ist der Auslöser für eine Anfrage. Auch ein rechtlicher Aspekt spielt eine Rolle: Auch jahrzehntelang vermisst gilt amtlich nicht als tot. Wichtig etwa bei Erbschaftsangelegenheiten. Zehn Todeserklärungsverfahren zum Zweiten Weltkrieg gehen pro Tag raus. 1,2 Millionen Kriegsvermisste gibt es derzeit noch.

Anfang der Neunziger schien das meiste geklärt, aber nach dem Fall der Mauer 1989 taten sich in den russischen Archiven neue Quellen auf, erzählt Heinrich Rehberg. Alle Soldaten in russischer Gefangenschaft wurden penibel erfasst und mussten 50 Fragen beantworten zu Ausbildung und Lebenslauf und unterschreiben. Über 5 Millionen Datensätze und Akten zu deutschen Soldaten, die in russischer Gefangenschaft waren oder gestorben sind befinden sich in der Chiemgaustraße 109. „Gerade die Unterschrift hilft oft weiter“, so Rehberg. Die Anfragen, von der knappen E-Mail bis zum zehnseitigen Brief in Sütterlinschrift, und das vorliegende Material wird im Computer abgeglichen und bei Treffern dann per Hand. Ist die Suche im eigenen Archiv nicht erfolgreich, wird bei anderen Archiven und Ämter recherchiert. Ob Opfer von Krieg, Internierung, Flucht und Vertreibung: Hinter jedem Namen verbirgt sich ein anderes Schicksal. „Patentrezepte gibt es nicht, jede Anfrage ist anders“, sagt Rehberg. „Gefragt sind ein Händchen dafür und Spürnase“. „Für eine erfolgreiche Suche brauchen wir mindestens folgende Angaben: Name, Vorname, Geburtsdatum. Sollte man das nicht genau wissen, muss man etwa beim Standesamt nachfragen“, sagt Rehberg. „So viele Details wie möglich helfen uns.“ Der Service, er wird vollständig vom Bund finanziert, ist in der Regel kostenfrei, bei einem „berechtigen Interesse“, etwa als Verwandter oder für ein Schulprojekt.

Ob Afghanistan oder Zentralafrika: Auch die Folgen der heutigen Kriege, etwa durch Flucht und Vertreibung getrennte Familien, landen in der Chiemgaustraße. „Das kriegsgebeutelte Somalia hat seit 20 Jahren keine Postverbindung, viele Somalis leben in Deutschland“, erzählt Rehberg. Rot Kreuz-Mitarbeiter fahren in die Dörfer, nehmen Familiennachrichten auf und bringen sie im Diplomatengepäck nach Genf. Dann gehen die für Deutschland bestimmten Briefe nach München. Dort werden die Adressen abgeglichen, entziffert oder übersetzt und versucht, die Nachricht zuzustellen. Von Michaela Schmid

Artikel vom 22.02.2012
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